Viele der grössten Stars im Radsport sind verletzt: Jonas Vingegaard (27, Dä), Wout van Aert (29, Be), Remco Evenepoel (24, Be) und Primoz Roglic (34, Slo). Auch die Bernerin Marlen Reusser (32), die grösste Schweizer Hoffnung auf Olympia- und WM-Gold, hat es erwischt – sie brach sich den Kiefer und mehrere Zähne. Alles nur Zufall? Nein. Hört man sich in der Rad-Szene um, gibt es keinen, der die Verletzungsserie als Bagatelle abtut.
«Stopp, stopp, stopp, lassen Sie uns dieses Massaker beenden», forderte Thierry Gouvenoud (54) nach dem fürchterlichen Sturz bei der Baskenland-Rundfahrt vergangene Woche. Der Direktor des Pavé-Klassikers Paris–Roubaix meinte in der L'Équipe, man müssen anfangen, über «Geschwindigkeitsprobleme» nachzudenken. Tatsächlich ist die Sturz-Problematik im Peloton vielschichtiger. Blick nennt die sechs grössten Baustellen und mögliche Lösungen.
Schneller, immer schneller!
Natürlich hat Gouvenoud recht, wenn er die hohen Tempi anspricht. Zuletzt purzelten die Tempo-Rekorde in der World Tour wie Dominosteine. Mathieu van der Poel (29, Ho) donnerte bei seinem Paris–Roubaix-Triumph mit durchschnittlich 47,85 km/h über die knapp 260 höllischen Kilometer – er brach damit den Bestwert des Vorjahres.
Doch nicht nur van der Poel wird immer schneller. Auch die anderen sind immer flotter unterwegs. Warum? Das Mindestgewicht der Velos ist von der UCI zwar auf 6,8 Kilogramm festgelegt. Trotzdem wird laufend und mit Erfolg an Material und Aerodynamik gefeilt. Wer da nicht mitmacht, fällt zurück. Gleichzeitig schützen die dünnen Trikots und Hosen so viel wie eh und je, sprich gar nicht. Nur der Helm hilft wirklich.
Jugendwahn mit Folgen!
Wenn Reto Hollenstein (38) auf seine Anfänge im Radsport zurückblickt, schüttelt er beinahe den Kopf. Kein Wunder: Der gelernte Elektromonteur arbeitete mit 23 noch zu 50 Prozent, ehe er Profi wurde. «So etwas gibt es nicht mehr. Heute setzt man fast nur noch auf junge Fahrer», sagt er.
Tatsächlich: Durch die frühe Professionalisierung überspringen immer mehr Junioren die U23-Kategorie. «Sie sind in jungen Jahren bereits unglaublich stark, aber es fehlt die technische Ausbildung. Sie sammeln kaum Erfahrung, wie man sich im Feld positioniert und bei Gefahren reagiert. Das rächt sich», sagt Thomas Peter, Geschäftsführer bei Swiss Cycling.
Technik-Training vernachlässigt!
Laut Rad-Routinier Silvan Dillier (33) wird nicht nur bei den jüngeren, sondern bei fast allen Fahrern viel zu wenig ins Technik-Training investiert. «Im Training geht es häufig nur darum, wie man mehr Power auf die Pedale kriegt. Aber Velo-Künstler wie van der Poel, Pidcock und Vermeersch fahren nicht nur schnell, sondern sicher.»
Die drei wüssten genau, wie man mit Unebenheiten und Steinchen auf der Strasse umgehe. «Sie können Kurven einschätzen und kennen den perfekten Bremspunkt. Da liegt bei vielen anderen noch Potenzial brach.»
Hierarchien bröckeln!
Die World-Tour-Emporkömmlinge sind nicht nur gut, sondern wissen das auch. Entsprechend flacher sind die Hierarchien in Teams und Peloton im Vergleich zu früher. Die Folge? Alle wollen sich weit vorne im Feld einreihen. Bloss: Dafür fehlt meistens der Platz. Es kommt zu Dichtestress, Nervosität und Fehlern – und nicht selten zu Stürzen.
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Fahrer wie Roboter!
Bei der WM und bei Olympischen Spielen gibt es keinen Funk. Heisst: Informationen erhalten die Fahrer durch Töffs und Streckenposten, die Tafeln und Warnhinweise hochhalten. Ganz anders in der World Tour: Da ist jeder der über 170 Fahrer mit seinem sportlichen Leiter verbunden. Hinter vorgehaltener Hand wird berichtet, dass sich viele fernsteuern lassen.
Dazu komme, dass viel zu viel gesprochen werde – das nerve und lenke ab. «Die Rennen wären ohne Funk sichererer und attraktiver», findet Peter. Er könnte sich vorstellen, dass ein neutraler Ein-Weg-Funk von der Jury, der für alle zugänglich ist und vor Gefahren warnt, eine gute Lösung wäre.
Neue Bremsen, neuer Schwerpunkt!
Nein, niemand will die alten Felgenbremsen zurück. Die Scheibenbremsen sind besser und sicherer. Allerdings ermöglichen sie auch ein viel späteres Bremsen – vor allem bei Nässe. «Beim kleinsten Fehler landen wir alle aufeinander», sagt der Franzose Valentin Madouas (27) in der «L’Équipe».
Raphael Meyer, CEO beim Schweizer Team Tudor, meint: «Auch die Sitzposition hat sich in den letzten Jahren nach vorne verschoben. Dadurch ist mehr Gewicht auf dem Vorderrad, was gefährlich ist.» Ex-Profi Michael Schär (37) pflichtet bei: «Man rutscht von Jahr zu Jahr weiter nach vorne, aber die Geometrie der Räder wurde nie angepasst. Die Balance stimmt nicht mehr. Das führt dazu, dass die Fahrer schon bei kleinen Auffahrunfällen über den Lenker fliegen und sich am Kopf verletzen.»