Colombo flüchtet in den Wald
Sie macht vielen Fans Freude und den Radprofis Jahr für Jahr Angst: die berühmt-berüchtigte Passage durch den Wald von Arenberg. Auf den 2,6 Kilometern mit Kopfsteinpflaster der 5-Sterne-Kategorie (der schwierigsten) zerbrechen schon viele Träume und manche Knochen. Der letzte Schweizer, den es erwischte? Filippo Colombo (26) im letzten Jahr. Bei rund 60 km/h passierte es schon nach 100 Metern. «Mein Vorderrad explodierte. Ich fuhr auf den Felgen weiter, wollte abbremsen. Doch vor mir stürzten andere Fahrer und ich über sie hinweg.» Sein Ellbogen brach auf den Pavés. «Der Knochen war um etwa drei Zentimeter verschoben. Weil andere Fahrer auf mich zurasten, bin ich in den Wald neben der Strecke geflüchtet», so der Tessiner.
Das berühmteste Opfer von Arenberg war der dreifache Sieger Johan Museeuw (58, Be). Der «Löwe von Flandern» krachte 1998 so heftig auf den Boden, dass die Kniescheibe zersplitterte. Er erlitt eine Infektion und musste sogar fürchten, das Bein zu amputieren. Er kehrte zurück und gewann noch zweimal (2000 und 2002).
Übrigens: Wochen vor dem Rennen werden traditionell Ziegen in den Wald von Arenberg geschickt – sie fressen das Gras zwischen den Steinen. In diesem Jahr gibt es eine Neuerung: Um das Tempo zu drosseln, haben die Organisatoren kurzerhand eine 180-Grad-Kurve vor der Einfahrt in den Wald eingebaut. Das sorgt für grosse Diskussionen. Als Top-Favorit Mathieu van der Poel (29, Ho) davon erfuhr, fragte er entsetzt: «Ist das ein Witz?»
Küng wird von Auto überrollt
In den letzten zwei Jahren wurde Stefan Küng (30) Fünfter und Dritter. Ihm liegt das lange Rennen über 259,7 Kilometer – je härter es wird, desto mehr blüht er auf. Auch diesmal ist er der grösste Schweizer Trumpf, während sich Stefan Bissegger (25) einen Podestplatz zutraut.
Schlechte Erinnerungen hat Küng an die Ausgabe 2017. Rückblick. Zuerst wird der Thurgauer in einen Sturz verwickelt, dann erleidet er einen Platten. Als wäre dies nicht genug, fährt ihm ein Materialwagen nach einem weiteren Unfall über den Arm. Küng steigt wieder aufs Velo, fährt noch 70 Kilometer weiter, gibt dann unter Höllenqualen aber auf. Jahre wird er sagen: «In der Hölle gibt es keine Regeln.»
Dillier: «Ich sah die Angst in den Augen»
Paris–Roubaix ist schon bei trockenen Bedingungen hart. Ist es nass, wird es besonders gefährlich. Silvan Dillier (33) kann 2021 ein Lied davon singen. «Als wir uns der ersten Kopfsteinpflaster-Passage näherte, sah ich Angst in den Augen vieler Fahrer. Es war der Horror, Schlamm überall. Wir fuhren wie auf Eis, und ich habe in den sechs Stunden viel Dreck gefressen.»
Nach über sechs Stunden erreicht er als 49. das Ziel – und noch bevor sich der Aargauer in der mythischen Gemeinschaftsdusche im Vélodrome von Roubaix (sie sind durch alte Betonwände getrennt) sauber macht, posiert er für ein Foto – müde, abgekämpft und komplett mit Schlamm bedeckt. «So einen Moment muss man festhalten. Vielleicht erlebe ich das nie wieder», sagt er. Seinen zweiten Rang von 2018 wird Dillier diesmal übrigens kaum wiederholen – er ist beim Team Alpecin-Deceuninck ein wichtiger Helfer van der Poels.
1923 schreibt Suter Geschichte
Der erste Schweizer Triumph – 83 Jahre vor Cancellara – erzielt Heiri Suter (1899–1978): Als erster Schweizer gewinnt er Paris–Roubaix, er schafft sogar das Double, weil er in der gleichen Woche auch die Flandernrundfahrt dominiert. Damit war der Mann aus Gränichen AG der erste Nicht-Belgier, dem dieses Kunststück gelang. Suter war der erfolgreichste von sechs Brüdern, die alle Radrennfahrer waren.
Für die 290 Kilometer benötigte Suter knapp neun Stunden. 1988 ist auch Thomas Wegmüller (63) nahe dran am Sieg, er sucht am Carrefour de l’Arbre – einem ebenfalls sehr schwierigen Pavé-Abschnitt – das Weite und wird hinter Dirk Demol (64, Be) Zweiter. Sein Rückstand? Zwei Sekunden.
Motor-Vorwürfe! Cancellara lächelt nur
Der beste Schweizer in der Geschichte des seit 1896 ausgetragenen Rennens ist ohne Wenn und Aber Fabian Cancellara (43). Der heutige Team-Boss der Schweizer Mannschaft Tudor ist mit seinem Punch wie geschaffen für Paris–Roubaix, er gewinnt dreimal (2006, 2010, 2013). Bei seinem Erfolg 2010 ist der Berner derart überlegen, dass er später mit Motor-Doping-Vorwürfen konfrontiert wird. Einige können schlicht nicht glauben, dass «Spartacus» bei seinem 50-Kilometer-Solo (im Ziel hat er 2 Minuten Vorsprung) ohne fremde Hilfe agiert.
Cancellara lächelt nur müde. Beschiss-Beweise gibt es nicht. Und: Zehn Jahre später kommt der Rad-Weltverband zum Schluss, dass es im Radsport kein mechanisches Doping gibt. «Mit 99-prozentiger Wahrscheinlichkeit», sagte UCI-Mann Jean-Christophe Péraud. Er hatte jahrelang Motoren, Generatoren und Batterien gesucht.