Meeresluft, Küstenwind und Ebene, so weit das Auge reicht: Eigentlich sind das die Elemente, mit denen Jonas Vingegaard (26) vertraut ist. Doch der Däne ist König der Alpen und Pyrenäen. Dank seiner hervorragenden Kletterfähigkeit fährt er am Sonntag nach einem dreiwöchigen Kampf in Paris seinen zweiten Tour-de-France-Sieg ein.
Bei der letzten Bergetappe am Samstag nach Le Markstein Fellering nördlich der Schweizer Grenze mischt sich Vingegaard ein letztes Mal wie ein Wachhund ins Renngeschehen ein, neutralisiert auch den letzten Angriff seines Rivalen Tadej Pogacar (24) – wie er es während der Tour in den Bergen so oft getan hat.
Der Slowene feiert aus dem Sprint der klein gewordenen Gruppe zwar seinen zweiten Etappensieg, Vingegaard als Vorjahressieger jedoch die Verteidigung des Maillot Jaune. Er wird am Sonntag triumphal nach Paris einfahren. Wer ist der Mann von der dänischen Nordsee-Küste, der sich in den Bergen so wohlfühlt?
Vom Schüchternen zur Konstanz in Person
«Ich war ein schüchterner Junge, jetzt ist es besser», lacht Vingegaard im offiziellen Tour-de-France-Magazin. Ruhig sei er immer noch, auch nach seinem ersten Gesamtsieg vor einem Jahr. «Ich bin derselbe geblieben», versichert er.
Vingegaard ist einer, auf den man zählen kann. Das 60-kg-Leichtgewicht (1,75 m) fuhr im Vergleich zu Pogacar (1,76 m, 66 kg) in den vergangenen drei Wochen solid auf höchstem Niveau, machte die explosiven Attacken des Rivalen durch seinen regelmässigen Tritt immer wieder wett. Und er nutzte die schwachen Tage Pogacars aus, um sich ein Zeitpolster im Gesamtklassement zu schaffen. Abschiffer? Gab es keine von Vingegaard bei dieser Tour. Seine Konstanz beeindruckte. Das war nicht immer so.
Die Fischfabrik machte ihn stärker
Noch vor fünf Jahren häutete Vingegaard in seiner Heimat an der Nordsee-Küste Fische. In einer Fabrik in Hanstholm (Dä) stand er am Fliessband und packte die Fische danach in Kisten ein. Es war ein Rat seines damaligen Teamchefs Christian Andersen (56), der sich an den ungeschliffenen Vingegaard erinnert: «Er war nicht gut organisiert, hatte keine Struktur in seinem Alltag und stand spät auf.»
Als Folge arbeitete Vingegaard frühmorgens bis zum Mittag, dann ging es sofort für das Training aufs Rad. Während dieser Zeit fuhr er für das unterklassige dänische Team ColoQuick, bevor er 2019 nach Holland zu Jumbo-Visma wechselte.
Vingegaard erreichte den Radsport-Olymp später als andere. Vor zwei Jahren lag er als Gesamtzweiter der Tour de France über fünf Minuten hinter dem jüngeren Pogacar, der die Tour bereits zum zweiten Mal gewann. Damals nahm Vingegaard überhaupt erst teil, indem er nach der Tour-Absage von Dumoulin als Ersatz nachrutschte.
«Ich war 32 – er sah aus wie 14»
Die Zeit in der Fischfabrik war nicht nur der Abschnitt, in dem Vingegaard die Disziplin lernte – ein anderer wichtiger Baustein fügte sich damals in sein Leben. Bei ColoQuick lernte er Trine Hansen kennen, die im Marketing des Teams arbeitete. Später erzählte sie der «Equipe»: «Als ich ihn das erste Mal sah, war ich 32 Jahre alt, und er sah aus wie 14. Aber er war so hartnäckig, dass ich mich verliebte.»
Jetzt steht die 37-Jährige regelmässig mit der gemeinsamen Tochter Frida (2) mit offenen Armen im Zielraum, um den Mann zu empfangen, der sich vom schüchternen Jungen von der Nordsee zum Berg-König und Siegfahrer an der Tour de France gemausert hat.
Beim Anblick der Bilder, wie Vingegaard nach den Etappen seine Frau und Tochter in die Arme schliesst, erhält eine seiner Aussagen noch mehr Gewicht. Immer wieder wird der Däne zur Doping-Skepsis befragt. Er versichert: «Ich nehme nichts und ich werde nichts nehmen, was ich nicht meiner zweijährigen Tochter geben würde.»
Bereits bei der Siegerzeremonie vor einem Jahr zeigte sich, wie wichtig Vingegaard seine Liebsten sind. Die kleine Familie wird es sich nicht nehmen lassen, am Sonntag erneut den grössten Sieg im Radsport zu feiern.