Nächste Etappe, nächste Machtdemonstration. Jonas Vingegaard (26) hat Rivale Tadej Pogacar (24) auf der 17. Etappe der Tour de France entscheidend distanziert. Nach mehr als zwei Wochen harten Zweikampfs nutzte er beim Aufstieg zum Col de la Loze die Schwäche von Pogacar aus. Jetzt kann sich der Vorjahressieger nur noch selber schlagen. Spätestens seit Vingegaards Zeitfahren am Dienstag suchen die Radsport-Experten nach Erklärungen. Der Däne hat über die 22,4 km mehr als eineinhalb Minuten auf seinen Rivalen Tadej Pogacar (24) herausgeholt, fast drei Minuten auf alle anderen 153 Fahrer.
Verschiedene Rekorde haben Vingegaard und Pogacar an der bisherigen Tour geknackt. Das bestätigen die Fahrer gleich selbst. Kein Wunder, gehen mit der Bewunderung für den Kampf der Dominatoren auch Zweifel an der Sauberkeit der Leistungen einher. Die letzten grossen Dopingskandale im Radsport sind zwar länger her, hallen aber immer noch nach.
Vingegaard: «Ich nehme nichts»
Je länger die Tour geht, desto mehr werden die beiden Dominatoren darauf angesprochen, ob sie die Zweifel nachvollziehen können. Vingegaard ist sogar froh darüber und sagt: «Ja, wir sind schnell und brechen Rekorde. Es ist also gut, skeptisch zu sein, damit sich die Geschichten nicht wiederholen. Das Einzige, was ich sagen kann, ist, dass ich nichts nehme.» Er verweist darauf, dass beim Vergleich mit früheren Leistungen viele Faktoren zu berücksichtigen sind: «Die Ernährung, das Material, das Training – alles verbessert sich laufend.»
Tour de France aktuell
Ein Blick auf die Leistungsvergleiche: Da ist zum Beispiel der Col de Tourmalet, ein Pass, der immer wieder im Programm der Tour steht, dieses Jahr auf der 6. Etappe. Vingegaard und Pogacar waren so schnell wie noch nie jemand zuvor auf dem gleichen Aufstieg. Den Le-Bettex-Aufstieg im Mont-Blanc-Gebirge zum Schluss der 15. Etappe bewältigten Vingegaard und Pogacar zusammen in 18 Minuten und 25 Sekunden und brachen dabei den Rekord von Chris Froome aus dem Jahr 2015.
Der Watt-Vergleich mit Haushaltsgeräten
Aussagekräftiger als die Zeiten sind allerdings die Wattzahlen – genauer die Leistung, die die Fahrer im Verhältnis zu ihrem Körpergewicht in die Pedale drücken. Beim erwähnten Tourmalet-Aufstieg zeigten Vingegaard und Pogacar auf den letzten 4,8 km gemäss «Lanterne Rouge» ihre beste Karriereleistung, wenn man die dünne Luft, die auf den rund 2000 Metern über Meer herrschte, einberechnet. Vingegaard trat für 13:27 Minuten mit 6,91 standardisierten Watt pro Kilogramm Körpergewicht, Pogacar mit 6,83. Heisst übersetzt: 415 Watt für den 60 kg schweren Vingegaard, 451 Watt für den 66 kg schweren Pogacar. Und das, nachdem sie zuvor bereits eine halbe Stunde lang mit weit über 300 Watt unterwegs waren. Was bedeuten diese Wattzahlen genau?
Der Vergleich liegt nahe: Auch die Leistung gewöhnlicher Haushaltsgeräte wird in Watt angegeben. Ein handelsüblicher Toaster frisst circa 800 bis 1400 Watt. Leisten daher die besten Radprofis der Welt weniger als ein Toaster? Blick fragt beim Sportwissenschaftler Dr. Ralf Kredel nach, der sich an der Universität Bern mit der Sportbiomechanik beschäftigt: «Der grosse Unterschied ist bei diesem Vergleich, dass beim Toaster die Eingangsleistung angegeben wird, also die Energie, die er pro Zeiteinheit aus dem Stromnetz aufnimmt, während beim Radprofi die Ausgangsleistung, also die Energie, die er pro Zeiteinheit an die Kurbel gibt, gemessen wird.»
Kredel erklärt weiter: «Ein Toaster wandelt einen Grossteil der aufgenommenen Energie in Wärme um, die für das Toasten eines Brots ja relevant ist. Auch der menschliche Organismus produziert bei der Bewegung Wärme. Diese ist für die optimale Leistung beim Radfahren aber nicht leistungsrelevant und oft eher hinderlich.»
«Im Bereich einer modernen Hausheizung»
Im Leistungsvergleich zum Toaster hat der Mensch ein schlechteres Verhältnis zwischen gesamthaft aufgenommener und abgegebener Energie pro Zeiteinheit; man spricht beim Radfahren von einem Wirkungsgrad von circa 20 bis 25 Prozent. Das heisst: Ein Mathieu van der Poel (28), der ebenfalls bei der Tour mitfährt und gemäss Angaben seines Teams in Zielsprints für 20 Sekunden über 1000 Watt drücken kann, benötigt dafür circa die vier- bis fünffache Eingangsleistung. «Da wären wir also eher im Bereich einer modernen Hausheizung», vergleicht Kredel.
Für alle, die die Leistungen von Vingegaard, Pogacar oder Van der Poel nur im Fernsehen bestaunen können, bleibt natürlich die Frage: Wie viel könnte man selber in die Pedale drücken über eine Renndistanz, die Profis zurücklegen? Sportwissenschaftler Kredel gibt Auskunft: «Ein typischer Erwachsener würde etwa 90 bis 120 Watt aufrechterhalten können – wenn ihm denn nach den 184 km dieses Beispiels der Hintern nicht zu stark schmerzen würde.»
Der Vergleich zeigt, wie viel mehr Kraft die Profis in den Beinen haben. So viel, dass es manchmal unheimlich wird. Wie jetzt an der Tour de France.