Hier siegte eine Schweizer Rad-Legende
Nach 35 Jahren Abwesenheit sprühen am Tour-Vulkan wieder Funken

Die 9. Etappe der Tour de France kehrt am Sonntag nach 35 Jahren Abwesenheit auf den Puy de Dôme zurück. Auf diesem Berg entstanden legendäre Geschichten – aus Schweizer und internationaler Sicht.
Publiziert: 09.07.2023 um 00:05 Uhr
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Grosser Schweizer Tour-Etappensieg im Jahr 1986: Erich Mächler siegt auf dem Puy de Dôme solo.
Foto: AFP
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Simon StrimerReporter & Redaktor Sport

Es herrscht die Ruhe vor dem Sturm am Puy de Dôme. 35 Jahre lang kreisten die Vögel ungestört über dem erloschenen Vulkan im Zentralmassiv im Herzen Frankreichs, der zum Unesco-Weltkulturerbe gehört. Bald werden sie in Aufruhr versetzt. Die Tour de France kehrt am Sonntag zurück. Auf den Berg, der Schauplatz von legendären Tour-Geschichten war.

Der Anstieg ist hart wie speziell. Auf den letzten vier Kilometern fällt die Steigung nie unter 11,5 Prozent. Die Strasse hinauf zum Gipfel kreist um den ganzen Berg herum, der wie ein Kegel aus der Landschaft ragt. Es geht stetig bergauf, Haarnadelkurven wie an der Alpe d'Huez gibt es keine.

Da eine Zahnradbahn gebaut wurde und die Strasse daher nur noch drei Meter breit ist, sind aus Platzgründen auf den letzten vier Kilometern keine Zuschauer zugelassen. Ganz anders im Jahr 1986, als mit Erich Mächler (62) bei der zweitletzten Befahrung des Puy de Dôme ein Luzerner vor den Augen Tausender Zuschauer solo zum Sieg fuhr.

Als aus einem Witz Realität wurde

Erich Mächler ist eine Schweizer Rad-Legende. Ein Jahr nach seinem Triumph auf dem Puy de Dôme gewann er als erster Schweizer den Klassiker Mailand–Sanremo und fuhr an der Tour de France eine Woche lang im Maillot Jaune. Für Blick schaut er auf seinen Puy-de-Dôme-Sieg zurück. Eigentlich begann die Etappe schlecht für ihn.

«Ich war hinten im Feld, war kaputt und wurde dann abgehängt», erinnert sich Mächler an den harzigen Start. Er habe es aber geschafft, wieder heranzufahren. Als sich eine Ausreissergruppe losreissen konnte, beruhigte sich die Lage. Mächler hat Zeit, Witze zu reissen. Zu Acacio da Silva (62, Por), der mit ihm im Feld fährt, sagt er lachend: «Wenn du heute Zweiter werden willst, musst du an meinem Rad bleiben.»

Weniger lustig findet es der Sportliche Leiter von Mächler. Er wird wütend, weil die Ausreisser wegfahren, und befiehlt, sie wieder einzuholen. Mächler, der sich in Zwischenzeit etwas erholt hat, kommt wieder heran. Ab dem Fusse des Puy de Dôme, der sich vor den Fahrern auftürmt, ist es dann ein Ausscheidungsrennen.

Mächler gewann am Puy de Dôme solo

Ein paar Kilometer vor dem Ziel schüttelt Mächler auch seinen letzten Konkurrenten ab, Ludo Peeters (69, Bel). «Ab diesem Zeitpunkt habe ich an den Sieg geglaubt. Wenn man den letzten Gegner abhängt, dann wechselt das Gefühl. Dann ist es nicht mehr Schmerz, sondern man bekommt Flügel.» Mächler fährt mit 34 Sekunden Vorsprung zu seinem einzigen Tour-Etappensieg bei zehn Teilnahmen.

Die aktuellen Fahrer kennen den Puy de Dôme nicht mehr, selbst die Franzosen nicht. David Gaudu (26), Leader des FDJ-Teams und damit von Stefan Küng, sagte kürzlich zu France 24: «Der Aufstieg ist für mich neu. Zum Zeitpunkt der letzten Ankunft hier bin ich noch nicht einmal geboren.»

Das legendäre Duell zwischen Anquetil und Poulidor

Für Radfahrer war die Zufahrt später eingeschränkt, dann gänzlich gesperrt. Vor der diesjährigen Tour war die Strasse lediglich einen Tag lang für die Teilnehmer offen, wie France 24 berichtet.

So sind es die Rad-Legenden des letzten Jahrhunderts, die die Geschichten am Puy de Dôme schrieben. Zum Beispiel im Jahr 1964, als sich die beiden Franzosen Jacques Anquetil (1934–1987) und Raymond Poulidor (1936–2019) ein Duell für die Geschichtsbücher liefern. Anquetil, der abgehängt wird, aber kurz darauf trotzdem die Tour de France gewinnt, gibt später zu, kurz vor dem Zusammenbruch gestanden zu haben.

Und da ist auch die Geschichte von Eddy Merckx (78, Bel), elf Jahre später im Jahr 1975. Der «Kannibale» dominierte in den Jahren zuvor und gewann die Tour innerhalb von sechs Jahren fünfmal. Dann erhält er beim Aufstieg zum Puy de Dôme von einem wild gewordenen Zuschauer einen Faustschlag in die Rippen, wo sich die Leber befindet. Er erholt sich davon nicht mehr, verliert seine Übermacht und die Tour an Bernard Thévenet (75, Fr).

Vingegaard und Pogacar alleine vorne? Gut möglich

Wer tritt in die Fussstapfen der Legenden? Pflügen sich bei der ersten Rückkehr auf den Puy de Dôme nach 35 Jahren die beiden Rivalen Jonas Vingegaard (26, Dä) und Tadej Pogacar (24, Sln) Lenker an Lenker den Berg hoch wie einst Anquetil und Poulidor?

Romain Bardet, Leader des DSM-Teams, stammt aus der Region und sagt in der offiziellen Tour-Vorschau: «Der Anstieg ist anders als die, die wir sonst befahren. Ich wäre überhaupt nicht überrascht, wenn sich der künftige Tour-Sieger auf dem Gipfel des Puy de Dôme durchsetzt.»

Einer, der es ganz genau verfolgen wird, ist Erich Mächler. Der Schweizer Puy-de-Dôme-Held sagt: «Ich werde am Sonntag sicher vor dem Fernseher sitzen.»

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