Blick-Reporter über Festina-Skandal von 1998
Eine Geschichte rüttelt die Schweiz auf

Im Juli 1998 kam während der Tour de France der Festina-Skandal ans Licht. Blick-Sportreporterlegende Hans-Peter Hildbrand war dabei – hier erinnert er sich an die verhängnisvollen Tage vor 25 Jahren.
Publiziert: 07.07.2023 um 12:56 Uhr
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Aktualisiert: 07.07.2023 um 13:27 Uhr
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Der Festina-Skandal erschütterte 1998 die Tour de France.
Foto: imago sport
Hans-Peter Hildbrand

Wie schmuggle ich 50 Schuss Munition, ein Jagdgewehr sowie zwei Laibe Raclette-Käse nach Irland? Und wie fahre ich auf der linken Seite? Das sind meine einzigen Sorgen im Juli 1998, eine Woche vor dem Start zur 85. Tour de France in Dublin.

René ist 1994 nach Irland ausgewandert. Er braucht das Gewehr, die Munition und den Raclette-Käse. Den heiklen Transport kann ich meinem Visper Freund doch nicht verwehren. «Diesen Schmuggel schaffst du auch noch», ermuntert er mich am Telefon.

Radsport-Journalisten sind Alleskönner

Ja gut, schliesslich recherchieren und schreiben wir nicht nur – wir Radsport-Journalisten können ja (fast) alles. Wir sind Computertechniker, verstehen uns als Funkspezialisten. Können Karten lesen wie die besten Orientierungsläufer. Wir prügeln das Auto wie einst Walter Röhrl durch die Landschaft. Wir wechseln platte Reifen im Schlaf.

Wir sind Gourmets, kennen überall die besten Restaurants. Wie sagte doch der legendäre Blick-Journalist Serge Lang (1920–1999), wenn er von einem weiss gedeckten Mittagstisch aufstehen musste: «Radrennen sind sooo schön, nur die Rennfahrer stören.»

Locker werde ich in Frankreich durch den Zoll gewunken. Gemütlich ist es auf der Fähre von Roscoff nach Cork. Von irischen Zöllnern keine Spur, der Linksverkehr (Kreisel im Uhrzeigersinn fahren!) kein Problem. Die Rennen meiner 16. Tour de France, die 21 Etappen sind weit, weit weg.

Dann platzt die Doping-Bombe noch vor dem offiziellen Start in Dublin. Festina-Masseur Willy Voet (wurde am 4. Juli 77) hat als Schmuggler weniger Glück als ich. An der grünen Grenze, auf der Rue du Dronckaert in der Nähe von Lille, wird er gefilzt. Dabei ist er hier immer über die Grenze gefahren, nie wird er kontrolliert. Doch die Fahnder haben ihn längst im Visier. Sie finden im Auto 234 Flaschen EPO, 60 Kapseln Asaflow (Blutverdünner) und 80 Ampullen Wachstumshormone und Amphetamine.

Doping, Lügen, Geständnis und Tränen

Es ist der Beginn des Festina-Skandals, eine traurige Geschichte auch um Alex Zülle (55). Eine Geschichte, die die ganze Schweiz aufrüttelt: Doping, Lügen, Geständnis und Tränen.

Alex Zülle wechselt im Januar 1998 zusammen mit Armin Meier ins Festina-Team. Dort ist seit 1995 auch der Waadtländer Laurent Dufaux engagiert. Der spanische Geldgeber Miguel Rodriguez (Fabrikant der Festina-Uhren) hat auf Bruno Roussel, den französischen Team-Manager, sanften Druck ausgeübt, um den zweifachen Vuelta-Sieger Zülle zu verpflichten.

Zum Autor

Hans-Peter Hildbrand (68), von 1980 bis 2015 Radsport-Journalist beim Blick/SonntagsBlick. Palmarès als Chronist: 40-mal Tour de Suisse, 35-mal Tour de France, 31-mal Tour de Romandie, 5-mal Spanien-Rundfahrt, je rund 30-mal Paris–Roubaix, Flandern-Rundfahrt, Lüttich–Bastogne–Lüttich, 30 Weltmeisterschaften (Strasse, Bahn, Quer) – ohne Sieg, mit nur einem Blechschaden!

Pascal Muller/freshfocus

Hans-Peter Hildbrand (68), von 1980 bis 2015 Radsport-Journalist beim Blick/SonntagsBlick. Palmarès als Chronist: 40-mal Tour de Suisse, 35-mal Tour de France, 31-mal Tour de Romandie, 5-mal Spanien-Rundfahrt, je rund 30-mal Paris–Roubaix, Flandern-Rundfahrt, Lüttich–Bastogne–Lüttich, 30 Weltmeisterschaften (Strasse, Bahn, Quer) – ohne Sieg, mit nur einem Blechschaden!

«Ich will endlich diese Tour de France gewinnen», hat der Spanier erklärt. Er weiss, mit Richard Virenque (Fr) wird ihm das nie gelingen. Alex Zülle zieht – 150 Bijouterie-Geschäfte in der Schweiz nehmen die spanischen Chronometer neu in ihr Sortiment auf.

Was etliche ahnen, aber keiner genau weiss: Im Festina-Team wird systematisch gedopt. Zwischen Direktion, Ärzten und Fahrern ist die Einnahme von Doping abgesprochen. Die Mittel dienen zur Leistungssteigerung. Und werden so verabreicht, um in den Kontrollen nicht hängen zu bleiben. Und die Gesundheit der Fahrer soll auch nicht gefährdet werden.

Doch Zülle hat damals im Blick erklärt: «Ich bin sauber!»

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«Ich weiss, dass ich viele Leute verletzt habe.»
Alex Zülle
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Es wird gelogen, was das Zeug hält. Am Freitag (17. Juli) erwarten wir Tour-Direktor Jean-Marie Leblanc zur Pressekonferenz. Gegen 22.30 Uhr rufe ich Alex Zülle an. Er ahnt das Unheil, weiss aber nichts Genaues. Um 23 Uhr wird es offiziell: Das Festina-Team wird von der Tour ausgeschlossen. Zülle bleibt bei seiner Aussage, die er am Montag im Blick gemacht hat: «Ich bin sauber.»

Es ist eine Lüge, Alex weiss es ganz genau. «Und ich habe es trotzdem getan. Ich weiss, dass ich viele Leute verletzt habe. Viele werden es nie verstehen. Aber ich musste es tun!»

Lügen oder schweigen gehört zum Geschäft des Radsports. «Ich wollte einfach nicht als Verräter dastehen. Nur das nicht – so habe ich es immer gehalten. Auch in meiner Bubenzeit. Lieber leiden als petzen!»

Niemand zwingt Zülle, sich zu dopen. Er tat es freiwillig, unter Aufsicht der Teamärzte. «Sie gaben mir die Spritzen mit EPO. Warum ich mich im Festina-Team so dopen liess? Ich fand keinen vernünftigen Grund. Warum? Weil es zum Geschäft gehört. Es fiel mir keine gescheitere Antwort ein.»

Zülle ist ehrlich. Schiebt die Schuld nicht auf die Ärzte ab. «Wenn ich nicht gewusst hätte, was sie machen – ich wäre dumm!»

Der französische Untersuchungsrichter Patrick Keil hat alle neun Profis der an der Tour de France ausgeschlossenen Festina-Mannschaft für Donnerstag nach Lyon eingeladen. Telefonisch. Zu einem Gespräch am runden Tisch.

Neben Zülle kommen also auch die Schweizer Laurent Dufaux und Armin Meier sowie Richard Virenque (F), der Tour-Zweite von 1997, und Weltmeister Laurent Brochard (F).

Der Gerichtstermin kollidiert mit Zülles geplanter Karibik-Reise, die der Ostschweizer nun ein paar Tage verschieben muss.

Was erwartet den Schweizer in Lyon? «Man hat uns mitgeteilt, dass wir von den Untersuchungsbehörden nicht als Schwerverbrecher behandelt werden! Sie wollen einfach unsere Meinung hören und mit uns diskutieren», sagt Zülle. «So schlimm wird es nicht sein!»

Ein Tag im Gefängnis

Dann dieser 23. Juli im Gefängnis von Lyon, der schlimmste Tag in Zülles Leben. «Nackt ausziehen, nackt bücken und Kontrolle des Hinterteils – ich habe mich geschämt, war wütend.»

Zülle muss seine Halskette abgeben, seinen Ohrschmuck, den Gurt und die Schuhe. «Auf einem Brett habe ich geschlafen. Es stank nach Fäkalien. Würde man Tiere in so einer Zelle halten, der Tierschutz hätte längst eingegriffen!» In einer ersten Verzweiflung sagt er gar, er wolle mit dem Radsport aufhören. «Aber Armin, der nebendran in der Zelle war, hat mir Mut zugesprochen. Das werde ich ihm nie vergessen.»

Am Morgen werden die Polizisten knallhart. Sie werfen die Beweise auf den Tisch. Und sie hören, was sie wollen. «Ja, ich habe mit EPO gedopt!» Alex Zülle will einfach nur raus. «Eine zweite Nacht hätte ich nicht überstanden!» Er sagt die Wahrheit. Er ist erleichtert – aber ohne zu wissen, was ihm die Zukunft bringen wird.

Es ist der 24. Juli 1998 in Lyon. Den Festina-Profi Armin Meier hat die Polizei vor ein paar Stunden aus dem Gefängnis entlassen. Er sitzt im Nobelhotel Cour de Loges in der Altstadt. Kein Reporter im Foyer. Nur Blick. «Gut, dass du da bist. Gehen wir, ich muss reden!» Er erklärt, dass er nur das gemacht hat, was die anderen auch tun: Er hat sich gedopt. Ohne je in einer Kontrolle hängenzubleiben.

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«An wichtigen Rennen wie dem Giro oder der Tour spritzte ich jeden dritten oder vierten Tag eine Dosis Eprex.»
Armin Meier
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Die EPO-Praktiken (Blutdoping) waren eines der bestgehüteten Geheimnisse. Bis Meier im Blick das dunkle Kapitel erstmals erhellt. «Als ich zu Festina kam, hat mir Teamchef Bruno Roussel gesagt, falls ich EPO nehmen möchte, solle ich mich bei den zwei Teamärzten melden. An wichtigen Rennen wie dem Giro oder der Tour spritzte ich jeden dritten oder vierten Tag eine Dosis Eprex, so heisst das Mittel. Und zwar entweder in den Oberarm oder in die Bauchfalte.»

Armin Meier ist der erste Radprofi, der öffentlich EPO-Missbrauch zugibt. Ich höre noch heute, wie er mit den Zähnen die Eiswürfel aus seinem Cola-Glas zermalmt. Ein fürchterliches Geräusch – aber besser hätte es den Festina-Skandal nicht untermalt.

Übrigens: 1998 waren neben den drei Festina-Profis auch Beat Zberg und Roland Meier am Start. Beide fahren das Rennen fertig. Die Tour gewinnt Marco Pantani (It). Jahre später ergeben Nachkontrollen, dass auch er gedopt war. Am 14. Februar 2004 wird Marco Pantani tot in einem Hotelzimmer in Rimini gefunden. Er starb an einer Überdosis Kokain.

Zülle 1999 Zweiter hinter Armstrong

Nach einer siebenmonatigen Sperre kehrt Zülle im Frühjahr 1999 zurück. Drei Monate nach seinem Comeback wird er hinter dem mittlerweile aus den Siegerlisten gestrichenen Lance Armstrong (USA) erneut Gesamtzweiter der Tour de France. Sein letzter grosser Erfolg ist der Gewinn der Tour de Suisse 2002. Nach der Saison 2004 tritt Alex Zülle zurück.

Armin Meier steigt 2001 aus dem Rennsattel und ist ab Mitte 2004 sechs Jahre lang Direktor der Tour de Suisse. Laurent Dufaux hört Ende 2004 auf. Jahre später nach der Skandal-Tour werden etliche Lebenslügen – «Ich habe nie gedopt» – entlarvt. 53 Proben von 1998 werden analysiert – 9 Proben sind sauber, 44 (73 Prozent) aber positiv.

Tour de France 1999: Alex Zülle (l.) beendete die Rundfahrt als Gesamtzweiter hinter Lance Armstrong (M.). Der US-Amerikaner wurde nach seiner Doping-Beichte aus der Siegerliste gestrichen.
Foto: imago/Bürhaus
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