Der Frauen-Radsport boomt. Im Vergleich zu den letzten Jahren gibt es von vielem mehr: Rennen, Sponsoren, TV-Übertragungen und Fahrerinnen. Auch die Tour de Suisse zieht mit, in diesem Jahr umfasst die 2021 wieder ins Leben gerufene Tour de Suisse Women bereits vier Etappen. Und nächstes Jahr steigt das Rennen gar in die höchste Kategorie, die World Tour, auf.
Trotzdem befindet sich der Frauen-Radsport im Vergleich zu den Männern noch in der Kinderstube. Bestes Beispiel dafür ist Noemi Rüegg. Die 21-Jährige aus Oberweningen ZH ist die talentierteste Nachwuchsfahrerin der Schweiz. Vor kurzem hat sie einen Vertrag beim mächtigen Team Jumbo-Visma aus Holland unterschrieben. Aber gutes Geld? Nein, das verdient sie noch lange nicht. «Ich erhalte den von der UCI vorgeschriebenen Mindestlohn», sagt sie. Heisst: 27'000 Euro. «Es ist schwierig, in der Schweiz davon zu leben.» Immerhin: Weil Rüegg noch von der Sporthilfe unterstützt wird, kommt sie in etwa auf den Mindestlohn eines Mannes (40'000 Euro). Das sind letztlich 3400 Franken pro Monat.
Angesichts der grossen Entbehrungen, welche Rad-Profis haben, ist dies nicht viel. Rüegg ist 200 Tage im Jahr weg von zu Hause. Treffen mit Freunden? Essen, wozu sie gerade Lust hat? Eine Geburtstagsfeier in der Familie? Für Rüegg ist alles eine Seltenheit. Dafür trainiert sie stundenlang, ist ständig auf Achse und hat den Druck, ihre Top-Leistung auf den Punkt abrufen zu müssen.
«Das ist mein grosser Traum»
Darüber beklagen will sich Rüegg keinesfalls. «Als man mir sagte, dass ich einen Vertrag bei Jumbo-Visma bekomme, hatte ich Tränen in den Augen. Das ist mein grosser Traum», sagt sie. Und der finanzielle Aspekt? Rüegg sagt: «Ich habe kaum Ausgaben für Reisen und Material. Das Team übernimmt alles. Und weil ich noch bei meinem Vater wohne, klappt das gut», sagt sie.
Und wer weiss: Vielleicht verdient sie ja bald mehr. «Es tut sich in allen Richtungen etwas. Und ich bin überzeugt, dass ich an einem guten Zeitpunkt im Frauen-Radsport einsteige», so Rüegg. Das Entwicklungspotenzial sei zwar noch gross, der Startschuss aber längst erfolgt, «auch wenn wir noch weit weg sind von Gleichberechtigung».
Usain Bolt war ihr Vorbild
Rüegg fühlt sich in ihrer neuen Mannschaft wohl. «Ich bin etwas überrascht, denn ich meinte, alles wäre viel strikter. Aber es ist sehr familiär und ich kann sogar schon ein wenig Holländisch», sagt sie. An der Tour de Suisse erhofft sich Rüegg einen Podestplatz bei einer Etappe. Oder eine Top-20-Platzierung im Gesamtklassement.
Doch wie kam die Zürcherin eigentlich zum Radsport? Rüegg stammt aus einer Radsport-verrückten Familie, Vater Peter war Trainer beim lokalen Verein, dem VC Steinmaur. Und auch ihre Brüder lieben das Velofahren, Timon (26) ist Quer-Profi und Silas (24) ein exzellenter Freestyler. Bei Noemi gab es allerdings Anlaufschwierigkeiten. «Als ich noch ein Kind war, leitete mein Vater ein Training im Klub. Ich ging ihm zuliebe mit, doch als einziges Mädchen gurkte es mich an», erinnert sie Rüegg. Es folgte der Wechsel zur Leichtathletik («Mein Idol war Usain Bolt»), ehe Rüegg mit 13 den Weg mit dem Velo zur Schule so genoss, dass sie anfing, mehr und mehr zu fahren. War der Radsport also Liebe auf den zweiten Blick? «Ja, das kann man so sagen», sagt sie schmunzelnd.
«Ich werde auch angeschrien»
Noch ist Rüegg keine komplette Fahrerin. In den langen Anstiegen hat sie noch Mühe und auch im Zeitfahren gibt es Defizite. Doch das ist für ihr Alter normal. Umso stärker ist das 54-Kilo-Leichtgewicht bei Rennen mit kurzen, knackigen Aufstiegen – ähnlich wie Marc Hirschi (23) bei den Männern. Dabei muss Rüegg zuweilen auch die Ellbogen ausfahren. «Ich werde auch angeschrien. Daran musste ich mich zuerst gewöhnen», sagt sie. Der Hintergrund? Für Rüegg ist Harmonie unter Menschen sehr wichtig, sie ist gläubig («Gott gibt mir Kraft») und hilfsbereit.
Das spiegelt sich auch in ihrem Werdegang wider. Rüegg machte als Teenager eine Lehre als Fachfrau Betreuung und kümmerte sich dabei vor allem um Menschen mit Behinderung. «Wenn ich jemandem eine Freude machen kann, bereitet mir das auch Freude. Die Lehre war auf der einen Seite belastend, anderseits kam sehr viel zurück. Ich könnte mir gut vorstellen, nach meiner Rad-Karriere wieder mit beeinträchtigten Menschen zu arbeiten.»
Viele weisse Socken
Das ist noch Zukunftsmusik. Zuerst konzentriert sich Rüegg auf die Tour de Suisse, später folgt womöglich die Tour de France. «Bei wichtigen Rennen ziehe ich mir meistens neue, weisse Socken an», nennt Rüegg ein kleines Ritual vor dem Start. Fakt ist: Sollte ihre Karriere in ähnlich rasantem Stil weitergehen, wird sie künftig wohl noch viele neue Socken brauchen.