Die Geschichte ist kitschig, aber wahr. 2008 wartet der 10-jährige Marc Hirschi mit Schreibblock und Stift auf Fabian Cancellara. Der Olympiasieger von Peking wird in Ittigen BE feierlich empfangen. Auch Hirschi ist in der 12'000-Seelen-Gemeinde zu Hause, der Knirps fährt begeistert Velo. Und nun trifft er erstmals sein Idol. «Ich war überglücklich, als ich Fabians Autogramm erhielt», erinnert sich Hirschi.
Und heute? Da ist Hirschi tatsächlich Cancellaras Nachfolger als nächster Schweizer Sieger bei der Tour de France. «Spartacus», so der Spitzname Cancellaras, gewann 2012 den Prolog in Lüttich (Be). Und Hirschi nun in Sarran (Fr) die 12. Etappe der Tour de France. «Es ist schwierig, die richtigen Worte zu finden. Ich fühle mich wie in einem Traum», so der neue Schweizer Rad-Held.
«Ich dachte, jetzt oder nie!»
Mit erst 22 Jahren reiht sich Hirschi in eine illustre Reihe ein. Grosse Namen wie Ferdy Kübler, Hugo Koblet, Urs Freuler, Tony Rominger und Alex Zülle holten schon Etappensiege an der Grande Boucle – und natürlich Cancellera. Noch ist Hirschi weit weg vom Palmarès dieser Fahrer. Gleichzeitig spricht wenig gegen eine Topkarriere des 61 Kilo leichten Allrounders.
Hirschi ist unglaublich antrittsstark, er kommt gut die Berge hoch (die kleineren noch besser), ist tempofest und in den Abfahrten bereits in jungem Alter Extraklasse. Dank diesen Attributen holt der Junioren-Weltmeister von 2018 seinen ersten Sieg bei den Grossen. 28 Kilometer vor dem Ziel macht Hirschi Ernst, er lässt alle stehen und fährt alleine dem Ziel entgegen. «Ich dachte, jetzt oder nie!», erzählt er später. Alle fragen sich: Kommt Hirschi diesmal durch?
Tour beinahe verpasst
Bereits am letzten Sonntag scheiterte er mit seiner 90-Kilometer-Mammutflucht kurz vor dem grossen Ziel. Doch diesmal nicht! Hirschi zieht sein Ding durch. «Es tönt blöd. Aber trotz der bitteren Niederlagen habe ich gesehen, was ich leisten kann. Das hat mir Extra-Power gegeben. Und nun der erste Profisieg bei der Tour. Es könnte nicht besser sein.»
Der Triumph Hirschis ist keine Sensation – dafür hat er zu gute Anlagen, dafür hat er schon zu häufig brilliert. Dennoch: Dass Hirschi sich so schnell unter die Allerbesten mischt, imponiert. Seine Bescheidenheit abseits des Velos steht dazu im Kontrast. «Ich bin kein Supertalent», sagt er. Und: «Ich versuche einfach, so viel wie möglich zu lernen.» Genau das macht Hirschi offensichtlich besonders rasch.
Dabei muss man wissen: Um ein Haar wäre Hirschi bei der Tour gar nicht dabei gewesen. Warum? Im Januar und Februar merkt er, dass etwas mit seiner Hüfte nicht stimmt. Er hat Schmerzen, die nicht abklingen. Ein Knorpel, der die Gelenkpfanne umrahmt, macht Probleme. «Ich hätte mich wohl unters Messer gelegt für eine Operation. Doch dann kam Corona und die Rad-Pause. Die Zeit für eine konservative Behandlung war plötzlich da. Es klappte.» Und heute? Da sagt Hirschi: «Dieser Tag ist einfach wunderschön.»