Für Marc Hirschi (21) ging es immer aufwärts. Ob bei den Junioren oder in der U23 – er war stets Weltklasse. Und auch in seinem ersten Jahr bei den Profis brachte der 61-Kilo-Mann aus Ittigen bei Bern alle zum Staunen. Er fuhr abgeklärt, ohne Hektik und beim Klassiker in San Sebastian (Sp) aufs Podest. Also schlicht bärenstark.
Doch 2020 wurde das grösste Schweizer Rad-Talent der letzten Jahre arg ausgebremst – und zwar nicht wegen Corona. Hirschi erklärt: «Es begann schon Anfang Jahr. Meine Hüfte schmerzte. Ich dachte zunächst, es sei nichts Schlimmes.» Das Problem: Genau das wurde es.
«Der Labrum war kaputt»
Rückblick. Anfang Februar steigt Hirschi mit der Tour de la Provence in die Saison ein. Und merkt: «Da stimmt etwas nicht mit mir.» Die Schmerzen, welche ihn im Training begleiteten, werden im Rennen zur Tortur. Trotzdem macht er weiter. Doch auch in der Tour des Alpes Maritimes et du Var muss er leiden. Dazu wird er krank.
Der einzige Ausweg: Hirschi steigt aus und fährt nach Hause. Damals denkt er nicht daran, dass es eine Leidenszeit von mehreren Monate sein wird. Der Gang zum Arzt bringt die folgenschwere Diagnose. «Der Labrum, also die Hüftgelenkslippe, war kaputt. Das ist ein Knorpel, der die Gelenkpfanne umrahmt», erzählt Hirschi heute.
Corona-Pause spielte Hirschi in die Karten
BLICK trifft den Youngster im «Alten Tramdepot» in Bern, gleich neben dem Bärengraben. Hirschi trinkt eine Fanta. «Es ging nur noch darum, ob wir operieren oder nicht», blickt er zurück. Die Entscheidung wurde ihm genommen – zum Glück. Denn: Wegen Corona fiel der Profi-Radsport in einen Dornröschenschlaf und Hirschi bekam plötzlich unerwartet viel Zeit.
Er entschied sich für den Weg zum Physiotherapeuten. «Auch, weil eine Operation nicht zu 100 Prozent eine Verbesserung gebracht hätte», erzählt er. Und tatsächlich: Die schonende Therapie und das gezielte Krafttraining zeigten Wirkung.
Weniger Cancellara, mehr Dumoulin
Entscheidender war aber, dass Hirschi seine Position auf dem Rad änderte. Ändern musste. «Ich habe nun das Becken weniger nach vorne gekippt, sondern halte es aufrechter», so der U23-Weltmeister von Innsbruck (Ö). Für Laien ist das nicht einfach zu erkennen, Hirschi bringt es aber entscheidende Linderung.
Nimmt man Rad-Profis als Referenz, lässt es sich sagen: Er fährt nicht mehr so wie Fabian Cancellara (38) früher, dafür eher wie sein früherer Sunweb-Teamkollege und Giro-Sieger Tom Dumoulin (32). Hirschi biegt den Rücken dabei etwas mehr als früher. «Es ist nicht einfach, sich nach vielen, vielen Jahren, umzustellen. Aber es war die einzige Lösung.»
Hirschi sucht den «Kick»
Mittlerweile ist Hirschi praktisch beschwerdefrei. «Es gibt nur noch einige muskuläre Anpassungen, die ich machen muss», sagt er. Für den Neustart der Rad-Saison am 1. August ist er jedenfalls bereit. «Dank Corona bekam ich die Pause, die nötig war. Von daher half sie mir. Gleichzeitig bin ich natürlich heiss darauf, endlich wieder Rennen zu fahren.» Was er sucht, ist klar: «Die Anspannung, das Adrenalin, der Kick.» Und der erste Sieg bei den Profis. «Das ist und bleibt für 2020 mein Ziel. Auch wenn die Saison nun kürzer ist.»
Hirschi hat in der Karriereleiter eine grosse Hürde übersprungen. «Diese Verletzung, diese ungewisse Zeit. Das war brutal. Gleichzeitig kenne ich meinen Körper nun besser. Ich weiss, wie ich mit ihm umgehen muss. Es ist entscheidend, stets zu lernen – genau das versuche ich zu tun.»