Fabian Cancellara ist 30 Kilo schwerer als Marc Hirschi. 91 Kilo zeigt die Waage beim Ex-Radstar an. «Ich habe ein wenig zugelegt», sagt er schmunzelnd. Auf der Ausfahrt am Bantiger, dem Hausberg Ittigens, sieht man allerdings nichts davon. Cancellara steigt locker – Klasse geht halt auch nach dem Rücktritt nicht verloren. «Aber wenn Marc jetzt andrücken würde, wärs schnell vorbei. Dann würde ich Blut spucken», so Cancellara.
Der 12 Zentimeter kleinere Hirschi verschwendet aber keinen Gedanken daran, aufs Gaspedal zu drücken. Nie im Leben würde der frischgebackene U23-Weltmeister seinem Kindheitsidol davonfahren. «Es ist das erste Mal, dass wir zusammen Rad fahren. Fabian war schon als kleiner Bub mein Idol. Zu ihm habe ich aufgeschaut.»
Auch Cancellara geniesst den Ausflug – selbst wenn eine bissige Bise durch Mark und Bein geht. Die beiden plaudern, fachsimpeln, lachen. Erstaunlich, dass sie sich erst seit wenigen Jahren persönlich kennen – zumal sie beide aus Ittigen BE stammen. «Unsere Häuser liegen nur 200 Meter auseinander», so Cancellara.
Genau genommen kann man sagen: Hirschi kennt Cancellara schon seit langem. «Als Fabian 2008 Olympiasieger und in der Gemeinde empfangen wurde, war ich an vorderster Stelle dabei.» Cancellara ist überrascht. «Wirklich? Tut mir leid, dass ich mich nicht erinnere. Aber damals warst du ja auch erst zehn.» Hirschi muss lachen. «Macht doch nichts! Ich war damals sowieso überglücklich, weil du mir ein Autogramm gegeben hast.»
Elf Jahre nach ihrem ersten Treffen ist die Situation genau umgekehrt. Hirschi ist seit diesem Jahr Profi, Cancellara seit 2016 nicht mehr. «Ich verfolge genau, was Marc macht. Er ist auf einem tollen Weg. Wie er letztes Jahr U23-Weltmeister wurde, hat mich beeindruckt.»
Weshalb Hirschi nicht aufs Geld schauen sollte
Das Lob kommt von höchster Stelle: Neben seinen zwei Olympiasiegen und vier Weltmeistertiteln gewann Cancellara je drei Mal Paris–Roubaix (2006, 2010, 2013) und die Flandern-Rundfahrt (2010, 2013, 2014). «So viele und grosse Siege – das werde ich kaum schaffen», so Hirschi. Er sei ein anderer Fahrertyp.
Cancellara pflichtet ihm bei: «Einwöchige Rundfahrten könnten etwas für dich sein. So einen wie dich haben wir momentan nicht in der Schweiz, du bist einzigartig. Stark am Berg und im Zeitfahren. Letztlich steht dir die Welt aber sowieso offen, du stehst am Anfang deiner Karriere. Versteife dich nicht – du wirst früh genug herausfinden, was dir liegt und was nicht.»
Einen konkreten Ratschlag hat Cancellara dennoch für Hirschi parat: «Schaue nicht aufs Geld. Wenn du weiter so gut fährst, kommt es von alleine. Wichtiger ist, dass du die richtigen Leute um dich hast. Sie sollen loben, aber auch kritisch sein.»
Genau das spürt Hirschi bei seinem Team Sunweb, bei dem er noch bis 2021 unter Vertrag steht. «Ich fühle mich sehr wohl.» Abschliessend eine besondere Frage: Wer würde ein Zeitfahren von Ittigen bis in die Berner Innenstadt über 5 km gewinnen? Hirschi hält sich vornehm zurück. Cancellara lachend: «Ich habe schon noch Pfupf – aber meine Knochen sind wohl zu schwer!»