Kinderaugen strahlen auf dem Karussell, der Duft von Glühwein und Punsch liegt in der Luft, ein leuchtender Christbaum erwärmt die Herzen. Das Weihnachtsdorf auf dem Zürcher Sechseläutenplatz ist selbst an diesem nasskalten Dienstagabend gut besucht. Wohl kaum ein Besucher denkt in diesem Moment daran, dass genau hier in neun Monaten das Herz des Radsports schlagen wird. Ausser drei Schwestern.
Lisa Camenzind (25) sagt: «Eine Heim-WM mit Gino zu erleben, wäre mega cool gewesen. Das Resultat würde keine Rolle spielen.» Laura Mäder (29) nickt. «Die ganze Familie wäre da, wir würden Fahnen aufhängen und Ginos Namen mit Kreide auf die Strasse schreiben.» Jana Mäder (28) meint schliesslich: «Ich habe die Weihnachtszeit extrem gern, aber Gino fehlt mir extrem.»
Am 16. Juni verstarb Gino Mäder an den Folgen seines Sturzes an der Tour de Suisse. Er wurde nur 26 Jahre alt. Erstmals reden seine drei Schwestern über den Schicksalsschlag, der ihr Leben auf den Kopf stellte. Vorher fühlten sie sich dazu nicht in der Lage. «Lisa, Laura, Jana und Gino waren wie ein Rad. Mit seinem Tod brach ein Stück dieses Rads weg – es ist nicht mehr komplett. Sie leiden sehr», hatte mir Gino Mäders Vater Andreas bei einem Besuch an der Unfallstelle am Albulapass im vergangenen Herbst erzählt.
«Sie sind grossartig», schreibt der Vater
Bevor unser Fotograf und ich Mäders Schwestern treffen, frage ich mich: Wie soll ich ihnen begegnen? Was sollte ich auf keinen Fall fragen? Wie verhalte ich mich, wenn es emotional wird? Immerhin geht es hier nicht um Sport – oder auch um Sport, vor allem aber um einen Menschen, der völlig überraschend aus dem Leben gerissen wurde. «Keine Sorge», beruhigt mich Andreas Mäder kurz vor dem Treffen per Whatsapp. «Sie sind grossartig», schreibt er. Was ich in diesem Moment noch nicht weiss: Zwei Stunden später werde ich genau gleich wie er denken.
Weil es noch nicht ganz dunkel ist, fragen wir, ob es in Ordnung wäre, vor dem Gespräch die Fotos zu machen – das Licht ist dann besser «Sicher, wieso nicht?», sagt das Trio. Lisa nimmt ein eingerahmtes Bild von Gino aus ihrem Rucksack, sie stellen sich im strömenden Regen vor den Weihnachtsbaum. Als ich frage, ob ich zwischendurch einen Regenschirm über sie spannen soll, erwidert Jana: «Nein, das bisschen Regen macht uns nichts aus.»
An Weihnachten blühte Gino auf
Kurz darauf verschieben wir ins Café Collana, gleich nebenan. Es ist gut besucht, fast voll. «Wollen wir uns hier hinsetzen? Wir können den Tisch ja etwas verschieben», sagt Laura. Spätestens jetzt ist mir klar, wie unkompliziert die Mäders sind. Als der Eistee, der Cappuccino und die heisse Schoggi auf dem Tisch sind, beginnen sie zu erzählen.
«Vor und an Weihnachten blühte Gino voll auf. Dann kam die ganze Familie zusammen, dann hatte er Zeit für uns. Und er hat es geliebt, uns zu beschenken – nicht irgendwie, sondern auf besonders originelle Art. Einmal brachte er ein Playmobil-Männchen am Weihnachtsbaum an und sagte: ‹Knips ihn runter! Das ist dein Geschenk!› Ich wusste nicht, was er meinte, tat es aber. Danach sagte Gino, ich hätte soeben einen Bungee-Jump bekommen», berichtet Jana.
«Ich weiss nicht, wie ich damit umgehen soll»
Schwester Laura geht davon aus, dass vor allem Heiligabend für die Familie emotional schwierig wird. «Wir haben immer das gleiche Ritual. Mami und Vati kommen zusammen, auch alle Partner mit den Kindern. Wir sperren uns in ein Zimmer ein, bis das Christkind klingelt. Erst dann dürfen wir alle runter vor den Baum. Wir singen Lieder, packen Geschenke aus und essen zusammen. Es ist eine wundervolle Zeit. Wie es erstmals ohne Gino sein wird, kann ich kaum abschätzen.»
Die Verarbeitung des Todes ihres Bruders ist noch längst nicht abgeschlossen – sie wird es vielleicht auch nie sein. «Es gibt Tage, da tut es mehr weh. Da stehe ich am Morgen auf und könnte den ganzen Tag weinen», sagt Lisa. Es komme aber weniger oft vor als früher, räumt sie ein. Auch Laura fühlt ähnlich. «Ich bin Lehrerin und war in der Schule, als Gino stürzte. Eine Kollegin meinte, dass es offenbar ernst sei. Ich habe das alles in diesem Moment nicht verstanden. Vati rief mich an und meinte: ‹Komm bitte nach Chur. Gino wird sterben.› Doch auch in diesem Moment wollte ich das nicht wahrhaben. Ich steckte die Kinder ins Auto, holte Jana in Basel ab und machte mich auf den Weg. Unterwegs rief Vati nochmals an und sagte, dass Gino von uns gegangen sei. Erst da habe ich es verstanden. Oder doch nicht. Manchmal denke ich, dass ich es noch immer nicht gecheckt habe.»
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Es gebe Momente, da sei sie überzeugt, dass Gino bald um die Ecke kommen und sagen würde: «Hallo, ich bin wieder daheim!» Die Vorstellung, dass es nie mehr so sein werde, sei schwer zu akzeptieren, ergänzt Laura mit Tränen in den Augen. «Die Lücke, die Ginos Tod in meinem Leben hinterlassen hat, ist riesig. Ich weiss nicht, wie ich damit umgehen soll, und habe grossen Respekt vor der Zukunft.»
Ein liebevoller Luftibus
Was bleibt, sind die Erinnerungen. Die Erinnerungen an einen Menschen, der für die drei Schwestern unendlich viel mehr war als ein velofahrender Bruder. «Gino erzählte fast nie von seinem Training oder von seinen Rennen. Er fand seinen Beruf nie interessanter als unseren, obwohl er im Fernsehen und in den Medien präsent war», sagt Jana. Gino sei sehr offen und herzlich gewesen – so wie stets zuvor, auch als Kind. «Dass er der einzige Bub der Familie war, machte ihm nichts aus. Gino hat immer mit uns gespielt und war sich auch nicht zu schade, mit unserem Bäbi-Wägeli durchs Quartier zu laufen. Dafür durften wir auch seine Legos zusammenbauen.»
Gleichzeitig sei Gino auch ein Luftibus gewesen, in Gedanken oft woanders. «Wir haben ihn immer wieder mal aus dem Seich herausgeholt», erzählt Laura. Einmal habe der Doping-Kontrolleur angerufen, um sich mit Gino zu treffen – er habe aber nicht gewusst, wo er sei. Die Folge? Laut Lisa: «typisch Gino». Er habe sie angerufen. «Du musst mich mit dem Auto abholen und zu ihm fahren.» Obwohl beschäftigt, folgte sie seinem Wunsch. «Es war fast unmöglich, Gino Nein zu sagen, weil er so lieb war.»
Einmal, bei einem Radquer in Sitten VS, sei er kurzärmelig am Start gestanden – bei minus 10 Grad. «Wir konnten es kaum glauben.» Andererseits habe er mit ihr bei einer Ausfahrt sofort das Velo getauscht, als sie einen Platten hatte. Auch deshalb habe die ganze Familie ihn gerne mit dem Wohnmobil an die Rennen begleitet. «Er hatte kaum Zeit für uns, war aber stets überglücklich, wenn wir da waren. Einmal stoppte er sogar den Teambus, um rasch Hallo zu sagen.»
«Manchmal rege ich mich über Gino auf»
Obwohl Weihnachten den Mäders sehr wichtig ist, sind die drei Schwestern nicht gläubig – zumindest nicht im klassischen Sinn. Auf die Frage, wo Gino jetzt sei, sagt Laura: «In uns allen. In unseren Erinnerungen, in unseren Herzen. Ich habe oft das Gefühl, er würde uns zuwinken.» Am Abend, nachdem ihr Bruder gestorben sei, habe sie einen Spaziergang gemacht, erinnert sie sich. «Ich musste alleine sein und lief los. Dann sah ich diesen wunderbaren Himmel – er war rot und warm. Ich habe ein Foto gemacht. Jedes Mal, wenn der Himmel wieder so schön ist, habe ich das Gefühl, Gino sei dort.»
Jana fing vor kurzem wieder an, Rennvelo zu fahren. «Wenn ich Gino etwas sagen will, fahre ich los. Ich erzähle ihm von meinem Tag und was ich erlebt habe.» Sie ergänzt schmunzelnd: «Und manchmal rege ich mich über ihn auf, wenn wieder mal ein Hoger kommt. Da frage ich: ‹Hättest du nicht einen einfacheren Sport aussuchen können?› Es ist meine Art, mit seinem Tod umzugehen.»
Ihre Liebe, aber auch ihr Schmerz vereint die drei Schwestern. «Alleine würden wir es nicht schaffen», sind sie überzeugt. Und: Ihr Bruder sei immer noch da, wenn auch nicht physisch. «Es ist schön, über Gino zu reden», sagt Laura. Sie habe immer noch Kreide im Kofferraum ihres Autos. «Dass ich nie mehr ‹Hopp Gino› auf die Strasse malen werde, wird mir aber extrem fehlen.» Sie wischt sich die Tränen aus den Augen und ergänzt: «Wahrscheinlich mache ich es trotzdem irgendwann mal noch.»