An ein Bild von Marlen Reusser wird sich die Radsport-Schweiz noch lange erinnern: Wie die Gold-Favoritin im Schneidersitz im Gras neben der Rennstrecke sitzt und von Nationaltrainer Edi Telser getröstet wird.
Am Freitag nach dem Tränen-Drama beim WM-Zeitfahren in Schottland ist Telser zuerst tagsüber drei Autostunden entfernt in seiner Funktion als Mountainbike-Trainer beschäftigt. Am Abend wird endlich klar, wie er die Situation erlebte, als er im Begleitfahrzeug hinter der besten Schweizer Strassenfahrerin folgte und sie dann plötzlich vom Velo stieg.
«Komisch für alle, die hinter den Kulissen arbeiten»
Telser gibt in einem Statement Einblick, das nicht nur seine Gefühlswelt aufzeigt, sondern die des Schweizer Radsport-Verbands. «Es geht hier gar nicht um mich. Unser Staff hier in Glasgow stellt sich von frühmorgens bis spätabends in den Dienst unserer Athletinnen und Athleten. Wenn dann eine Athletin auf dem Weg zu einem Medaillengewinn aufgibt, fühlt sich das komisch an für jene, welche hinter den Kulissen arbeiten.» Die Befürchtung von Marlen Reusser hat sich bewahrheitet: Andere, die viel Energie für sie einsetzen, sind alles andere als glücklich mit ihrer Aufgabe.
Alles war angerichtet beim WM-Zeitfahren in Schottland und Reusser auf gutem Weg zu ihrem ersten Weltmeistertitel. Telser erklärt, dass der beachtliche Rückstand, den Reusser bei der ersten Zwischenzeit hatte, beim Entscheid keinen Einfluss gehabt haben müsste: «Zum Zeitpunkt der Aufgabe waren wir voll im Soll, das Pacing war perfekt. Marlen hatte bewusst zurückhaltend begonnen, um dann in der zweiten Streckenhälfte aufzudrehen. Konkret: Sie war auf gutem Weg zum Gewinn ihres ersten Weltmeistertitels.»
Telser steht aber auch hinter Reusser
Wie der Nationaltrainer seine Atlhetin am Strassenrand tröstete, nimmt er sie aber auch jetzt in Schutz. «Bei einer solchen Ausgangslage gibts du ein Rennen nicht einfach so auf», sagt er. «Die Gesundheit kommt bei uns an erster Stelle, sie steht über dem Sport.» Reusser klärte die Öffentlichkeit nach ihrer Rennaufgabe nach stundenlanger Unklarheit am Donnerstagabend in einem zehnminütigen Interview mit SRF auf und gab tiefe Einblicke in ihre Gefühlswelt.
Reussers Begründung: «Im Rennen wäre dann wie der Teil gekommen, wo ich merkte, dass ich aufdrehen sollte, um es zu holen. Und ich hatte keinen Bock darauf – wirklich nicht. Und dann habe ich einfach gestoppt.» Sie sagte, dass sie Abstand nehmen müsse, um den Hunger wieder zu finden. Die WM hat bei ihr das Fass nach einem sehr erfolgreichen Frühling zum Überlaufen gebracht, weil sie sich nie über die Erfolge freuen konnte.
Was am Sonntag anders ist
Der eigentliche Hammer in der Botschaft von Reusser-Tröster Edi Telser wird erst am Schluss nochmals ein Thema: Reusser startet am Sonntag beim Strassenrennen. Drei Tage nach ihrer Aufgabe trotz Topform wird sie am Sonntag zusammen mit dem Schweizer Team wieder in die Pedalen treten!
Die Erklärung ihres Nationaltrainers: «Im Strassenrennen benötigt sie keine Atempause. Dort fährt man Frau gegen Frau, nicht gegen sich selbst; das ist eine andere Geschichte.»