Darum gehts
Ein frisch gezapftes Bier? «Ich mag lieber Eistee», sagt Marc Hirschi (26). Am Sonntag würde der Berner aber gerne eine Ausnahme machen und an einem Glas Gerstensaft nippen. Der Grund? Wer es beim Amstel Gold Race aufs Podest schafft, bekommt ein Bier der namensgebenden Brauerei in die Hand gedrückt. Schon letztes Jahr gewöhnte er sich als Zweiter an den Biergeschmack und strahlte.
Das hauptsächlich durch Holland führende Rennen zählt nicht zu den fünf Monumenten des Radsports, ist aber dennoch sehr prestigeträchtig. Auch seine 59. Ausgabe ist ganz nach dem Geschmack Hirschis.
Für den Tudor-Fahrer markiert es den Start der Ardennenklassiker – am Mittwoch folgt die Flèche Wallonne und kurz darauf das Lüttich–Bastogne–Lüttich. «Mein Frühling war nicht super. Zuletzt an der Baskenland-Rundfahrt habe ich ziemlich gelitten – ich hoffe nun, dass ich von diesen harten Rennen profitieren kann», sagt er.
Ob Hirschi zuschlagen wird? Die 259,9 Kilometer rund um Maastricht (Ho) beinhalten Dutzende kleine Steigungen (total 3100 Höhenmeter) und in diesem Jahr kehrt der legendäre Cauberg nach acht Jahren Abwesenheit auch in der Schlussrunde zurück. Das alles liegt dem ausdauernden, explosiven Hirschi bestens. Gemeinsam mit Julian Alaphilippe (32) bildet er die Tudor-Doppelspitze.
«Einer der wenigen, der sich trauen würde»
Die Weltnummer 5 aus Ittigen (Be) weiss: Es braucht mehr als gute Beine, um zu gewinnen. Schliesslich ist mit Tadej Pogacar (26, Slo) der für einige beste Velo-Profi der Geschichte am Start. «Wir fuhren lange im gleichen Team und sind Freunde», so Hirschi, «aber in den Rennen natürlich nicht mehr.»
Wie er in Holland Pogacar und Co. schlagen will? Die Taktik wird nicht verraten. Fakt ist aber: Hirschi hat Qualitäten, die nur ganz wenige im Feld der 172 Fahrer besitzen. «Ich habe selten einen Fahrer gesehen, der schon in jungem Alter so abgebrüht und taktisch clever handelte», sagt sein ehemaliger Nati-Trainer Marcello Albasini (67).
Besonders gut beherrscht Hirschi die Kunst des Pokerns. Er lupft seinen Hintern nicht bei jeder Attacke, sondern bleibt geduldig und verschwendet keine Energie. «Zocken ist da nur der Vorname. Ich weiss nicht, ob sowas auch mit Pogocar möglich ist – aber Marc ist einer der wenigen, der sich überhaupt trauen würde», so Albasini.
Als würde er sein Rennen im TV sehen
Instinktfahrer Hirschi hilft ebenfalls, dass er seine Gegner oft gut «lesen» kann. «Ich versuche an ihrer Gestik und Mimik zu erkennen, ob sie kaputt sind oder noch nicht. Bei einigen gelingt das», meint er bescheiden.
Ex-Profi Michael Schär (38), heute Sportlicher Leiter beim Team Lidl-Treck, beschreibt seine Gabe so: «Marc ahnt oft, was seine Gegner tun werden. Er hat auch eine Art Helikopterperspektive, die man eigentlich nur vor dem TV haben kann. Und das, obwohl er mitten im Rennen ist. Nur wenige Athleten können das.»