Es gibt diese Momente, an die man sich zeit seines Lebens erinnert. Wo man gewesen war, als in New York die Twin Towers zusammengestürzt waren. Was man gemacht hatte, als man vom Absturz von Swissair-Flug 111 über Halifax erfahren hatte. Der 26. September 2024 wird für mich leider auch so ein Tag werden. Ich sass an jenem Donnerstagabend gemütlich zu Hause auf dem Sofa und spielte mit meinen Kindern Uno, als die Push-Meldung kam, dass das Schweizer Rad-Talent Muriel Furrer während der WM in Zürich schwer gestürzt sei und in der Zürcher Uniklinik um ihr Leben kämpfe.
Am anderen Morgen machte ich mich auf den Weg zur Unfallstelle in einem Waldstück bei Küsnacht. Nichts erinnerte auf den ersten Blick an das tragische Unglück, das sich hier vor nicht einmal 24 Stunden ereignet hatte. Die Hündeler drehten ihre Runde, die Zivilschützer, Ordner und Polizisten waren bereit fürs nächste Rennen.
Suchte man mit den Leuten das Gespräch, merkte man aber sofort: Alle waren nervös, niemand wollte oder durfte etwas sagen. Ich erfuhr hinter vorgehaltener Hand, dass Furrer nach ihrem Unfall lange unentdeckt und schwer verletzt im Wald liegen geblieben war. Eine schreckliche und unbegreifliche Vorstellung.
Ist das, was ich hier mache, richtig?
In den Tagen danach zog es mich immer wieder in dieses Waldstück, da ich wusste, dass hier die Antworten auf die drängendsten Fragen liegen müssen. Wie konnte der schreckliche Unfall passieren? Warum hat sie niemand im Unterholz entdeckt? Hätte man sie retten können, wenn man sie schon früher vermisst hätte? Es sind die gleichen Fragen, die sich wohl auch Muriels Eltern gestellt haben. Und auf die es bis heute keine befriedigenden Antworten gibt.
Für uns Journalisten stellten sich aber auch noch ganz andere Fragen: Was dürfen und sollen wir schreiben? Welche Details sollen wir aus Rücksicht auf die Hinterbliebenen weglassen? Wen sollen wir kontaktieren – und wen nicht?
In jenen Tagen lag ich oft abends im Bett und das Gedankenkarussell kreiste unaufhörlich weiter. Ist das, was ich hier mache, richtig und wichtig? Hat die Öffentlichkeit ein Anrecht auf die Wahrheit, auf die schockierenden Details dieses Unfalls? Meine Antwort darauf war fast immer ein Ja. Auch, weil die Verantwortlichen mehr oder weniger untergetaucht waren und es noch viele Ungereimtheiten gab. Bis heute.
Längst ging es in diesem Fall nicht mehr nur um Muriel Furrer, sondern auch um die Frage, wer das alles zu verantworten hat und ob es am Ende Schuldige geben wird und muss. In den Tagen danach hatte ich Kontakt zu vielen Verantwortlichen aus der Radsport-Szene. Manche wollten den Kopf vom Weltradsportverband-Präsidenten rollen sehen, zogen dann aber noch vor Erscheinen des Artikels ihre Aussagen wieder zurück. Andere wiederum forderten, dass man die Berichterstattung einstelle und lieber einen Mantel des Schweigens über den Fall Furrer lege.
«Warum durfte nicht ich für dich gehen?»
Am 8. November geriet das alles aber wieder in den Hintergrund. An jenem Tag fand in der reformierten Kirche Uster die Trauerfeier für Muriel Furrer statt. Mehrere hundert Menschen nahmen von Muriel, die stets ein Lächeln im Gesicht hatte, Abschied.
Ich habe in meinem Leben noch selten so oft geweint, wie während diesen beiden so emotionalen Stunden. Während des Abschiedsgottesdienstes wurde auch ein Brief von Muriels Mutter Christine vorgelesen. «Warum durfte nicht ich für dich gehen? Wie sollen wir ohne dich leben?», fragte sie darin. Und ihr Bruder Eric erzählte, wie er Muriel am Tag nach dem Unfall im Spital gehen liess: «Mit zehn Küsschen auf die Stirn.»
Drei Monate sind seit dem schrecklichen Unglück vergangen. An der Unfallstelle erinnern immer noch Kerzen, Blumen und Fotos an die viel zu früh verstorbene Muriel Furrer. Auf einem Foto steht: «Liebe Muriel. Du bleibst unvergessen und wirst für immer in unseren Herzen sein!» Oder wie es der Pfarrer während des Trauergottesdienstes sagte: «Muriel, du bist gestorben, aber du bist nicht tot.»