Rad-WM-Rennleiter Senn über den Tod von Muriel Furrer (†18)
«Wir als Sport haben versagt»

Während der Rad-WM 2024 war er als Rennleiter im Einsatz. Hier blickt Olivier Senn auf die schrecklichen Tage zurück. Er nimmt Stellung zu den Vorwürfen, die es seitdem gibt. Und erklärt, wie er die Tragödie verarbeitet hat.
Publiziert: 21.12.2024 um 18:06 Uhr
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Aktualisiert: 21.12.2024 um 19:20 Uhr
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Im Fokus: Nach dem tödlichen Unfall von Muriel Furrer muss sich Olivier Senn viele Fragen stellen lassen.
Foto: keystone-sda.ch
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Daniel LeuStv. Sportchef

Blick: Herr Senn, überschattet wurde das Jahr vom tragischen Tod von Muriel Furrer während der Rad-WM in Zürich. Welche Erinnerungen haben Sie an jenen 26. September, den Tag des Unfalls?
Olivier Senn: An vieles kann ich mich nicht mehr exakt erinnern. Ich weiss nur noch, dass ich an jenem Tag viele Sitzungen hatte. Irgendwann erfuhr ich, dass sie vermisst wurde. Und später dann, dass sie gefunden wurde.

Wann realisierten Sie, wie dramatisch es ist?
Als ich vom Einsatz des Helikopters erfuhr. Da war mir klar, es ist richtig ernst.

Das Schicksal von Furrer bewegt die Schweiz bis heute. Viele können vor allem nicht verstehen, dass sie rund eineinhalb Stunden unentdeckt und schwer verletzt im Wald liegengeblieben war.
Dem Ottonormalverbraucher das zu erklären, ist beinahe unmöglich. Gemäss meines Wissensstands hat aber tatsächlich niemand ihren Sturz gesehen und deshalb hat auch lange Zeit niemand nach ihr gesucht.

Persönlich

Olivier Senn (54) ist seit Jahrzehnten im Radsport tätig. Früher als Rennfahrer, später unter anderem als Sportlicher Leiter eines Teams und als Verantwortlicher des GP Gippingen. Heute ist er Event-Direktor der Tour de Suisse und Inhaber von Cycling Unlimited. Senn ist verheiratet und vierfacher Vater.

Olivier Senn (54) ist seit Jahrzehnten im Radsport tätig. Früher als Rennfahrer, später unter anderem als Sportlicher Leiter eines Teams und als Verantwortlicher des GP Gippingen. Heute ist er Event-Direktor der Tour de Suisse und Inhaber von Cycling Unlimited. Senn ist verheiratet und vierfacher Vater.

War die Abfahrt nach Küsnacht, in der sie gestürzt war, bei diesem regnerischen Wetter zu gefährlich?
Nein, wir haben diese Unfallstelle im Vorfeld nicht als besonders aussergewöhnlich eingestuft. Bei den Abfahrten ist es stets eine Frage der Sicherheitsmargen, welche nicht immer gleich gross sind. Wenn jemand stürzt, egal warum, kann das schlimm enden. Und ja, natürlich steigen bei Regen und düsterem Licht die Risiken. Deshalb haben wir an jenem Tag auch zusätzliche Leute in den Wald beordert, die die Athletinnen vor gewissen Passagen gewarnt haben. Das sind die Massnahmen, die du als Veranstalter machen kannst.

Am Tag darauf wurden aber an der Unfallstelle zusätzliche Matten angebracht. War das ein Eingeständnis?
Nein, das war es nicht, aber stellen Sie sich vor, wir hätten dort nichts gemacht und es hätte in einem späteren Rennen an der Stelle noch einmal einen Unfall gegeben.

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«Dieser Vorwurf ärgert mich sehr, weil er hinten und vorne nicht stimmt. Wir hatten bei den Juniorinnen das genau gleiche Sicherheits-Setup wie bei den Elite-Frauen»
Rad-WM-Rennleiter Olivier Senn
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Nach dem Tod von Furrer gab es vor allem drei Vorwürfe. Der erste: Die Kommunikation war schlecht.
Für uns vom lokalen OK gab es betreffend Kommunikation Einschränkungen, da der Weltverband UCI das Sagen hatte. Es gab ja diese ominöse Medienkonferenz, in der zwar geredet, aber nichts gesagt wurde. Mein Team und ich haben zumindest dafür gekämpft, dass Fragen von Journalisten zugelassen waren. Das haben wir geschafft, obwohl die UCI das grundsätzlich nicht wollte. Und wir haben auch über das Wochenende und danach mehrmals in den Medien Stellung genommen, soweit dies unter den gegebenen Umständen möglich war.

Nach dem Tod von Gino Mäder während der Tour de Suisse 2023 war die Kommunikation offener.
Damals konnten wir selbst entscheiden, was wir sagen und was nicht. Das war während der WM nicht möglich.

Der zweite Vorwurf: In einem Interview sagten Furrers Kolleginnen kürzlich, während den Juniorinnen-Rennen sei weniger für die Sicherheit gemacht worden als bei der Elite.
Dieser Vorwurf ärgert mich sehr, weil er hinten und vorne nicht stimmt. Wir hatten bei den Juniorinnen das genau gleiche Sicherheits-Setup wie bei den Elite-Frauen.

Der dritte Vorwurf: Es gab bekanntlich Tracking-Daten. Man hätte bei der Suche nach Furrer doch einfach auf diese zurückgreifen können.
An den Fahrrädern gab es zwar Tracker. Doch die haben ihre Daten nur zu den Kamera-Töffs in ihrer Nähe gesendet. Die Idee dahinter ist nicht das Tracking. Es geht darum, dass wenn ein Töff eine bestimmte Fahrerin filmt, es ihm anzeigt, wer das ist. Sobald der Töff nicht mehr in der Nähe der Fahrerin ist, hat niemand mehr Zugriff auf diese Tracker.

Als Aussenstehender fragt man sich nach zwei toten Schweizern innerhalb gut eines Jahres: Ist der Radsport zu gefährlich?
Ganz klar, wir müssen die Risiken reduzieren, auch wenn man nie alles verhindern kann. Wenn zwei Menschen sterben, dann lief etwas falsch, dann haben wir versagt, aber nicht wir als Veranstalter, sondern wir als Sport. Wir müssen zukünftig wissen, wo die Athleten unterwegs sind, Punkt. Hätten wir das gewollt, könnten wir das technisch wohl schon seit 20 Jahren.

Sind das alles nur Lippenbekenntnisse oder geht jetzt wirklich etwas?
Wir sind wirklich dran, aber einfach ist das nicht, weil alle dahinter stehen müssen – die UCI, die Teams, die Veranstalter. Doch in den letzten Monaten gab es Fortschritte.

Wird es demnach an der Tour de Suisse 2025 GPS-Tracking geben?
Wir wollen das unbedingt. Technisch ist es eigentlich keine Hexerei, eine Abdeckung von 95 Prozent zu erreichen, 100 Prozent hingegen schon. Nun stellt sich die Frage: Machst du nichts, bis du 100 Prozent erreicht hast? Oder machst du es schon bei 95 Prozent? Ich bin klar für das zweite, weil mit 95 bin ich schon 95 Prozent besser als vorher.

Wer bezahlt das?
Wir, aber diese Frage stellt sich gar nicht. Dieses Geld müssen wir einfach ausgeben.

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«Als ich erfuhr, dass sie gestorben ist, musste ich natürlich weinen, gleichzeitig hatte ich aber keine Zeit, um ausgiebig zu trauern, weil in einer solchen Krisensituation vieles auf einem einprasselt»
Rad-WM-Rennleiter Olivier Senn
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In Ihrer «Obhut» sind nun zwei Fahrer gestorben. Wie gehen Sie persönlich damit um?
Als Gino starb, ging ich die ganze Zeit davon aus, dass irgendwann nach der Tour de Suisse der grosse Zusammenbruch kommt, aber er kam nie. Vielleicht auch, weil wir im Team sehr viel miteinander geredet haben und ich auch mit meiner Frau offen darüber sprechen konnte.

Wie war es jetzt bei Muriel Furrer?
Als ich erfuhr, dass sie gestorben ist, musste ich natürlich weinen, gleichzeitig hatte ich aber keine Zeit, um ausgiebig zu trauern, weil in einer solchen Krisensituation vieles auf einem einprasselt.

Wir haben viele Mails bekommen, die Sie für die beiden Todesfälle mitverantwortlich machen. Was haben Sie alles erhalten?
Bei Gino gab es Todesdrohungen und ganz wüste Mails, bei Muriel hielt es sich bis auf ein, zwei Ausnahmen in Grenzen. Ich kann mit solchen Anfeindungen relativ gut umgehen und lasse sie nicht zu sehr an mich ran.

Gab es von der Familie Furrer Vorwürfe in Ihre Richtung?
Zum Glück nicht.

Und machen Sie sich selbst Vorwürfe?
Vorwürfe nicht, aber Gedanken. Was hätten wir anders machen können? Gab es unsererseits falsche Einschätzungen? Aber eigentlich ist es müssig, darüber nachzudenken. Matchentscheidend ist nun, dass wir die richtigen Schlüsse daraus ziehen, damit wir die Häufigkeit und vor allem die Auswirkungen solcher Unfälle in Zukunft minimieren können.

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