Die Erinnerungen an Wouter Weylandt (†26) sind sofort da bei Fabian Cancellara. «Ich bekomme Hühnerhaut, wenn ich an ihn und seinen Sturz denke», sagt er zu SonntagsBlick. «Das war ein einschneidendes Erlebnis in meiner Karriere, das mich emotional sehr berührt.» Noch heute lässt ihn die Geschichte nicht los. «Es begleitet mich. Manchmal ist es mehr präsent als gewisse Siege.»
Wieso genau? Das weiss Cancellara nicht einmal. «Es sind auch andere Rennfahrer verstorben, aber nichts hat mich so sehr mitgenommen.» Der Abend nach der Todesnachricht, die Tage danach, das sei sehr hart gewesen.
Es ist der 9. März 2011. Weylandt, ein Teamkollege von Cancellara bei Leopard-Track, fährt auf der 3. Etappe des Giro d’Italia auf einer rasanten Abfahrt vom Passo del Bocco rund 25 Kilometer vor dem Ziel. Er schaut nach hinten, um sich einen Überblick über die Situation zu verschaffen. Dann passierts bei rund 75 km/h: Mit der linken Seite streift er eine Mauer und verliert die Kontrolle. 20 Meter wird Weylandt auf die andere Strassenseite geschleudert. Dort kollidiert der Belgier mit einem Gegenstand. Schädelbruch. Weylandt ist sofort tot.
Cancellara sass auf der Polstergruppe mit seiner Vierjährigen
Cancellara sitzt zu dem Zeitpunkt daheim auf dem Sofa und schaut das Rennen im TV. Mit seiner Frau Stefanie. Mit Wouter und dessen schwangerer Freundin An-Sophie hat er wenige Wochen zuvor rund um Paris–Roubaix noch zu Abend gegessen. «Nach dem Unfall war Totenstille für längere Zeit. Meine Frau hat sehr emotional reagiert», erinnert sich der Berner.
Die Gedanken des mittlerweile zweifachen Familienvaters drehen sich um seine erste Tochter Giuliana. «Ich sass da auf der Polstergruppe mit meiner Vierjährigen. Im Wissen, dass bei seiner Freundin ein Kind unterwegs ist. Dieses Schicksal machte mir zu schaffen. Der Gedanke, dass das Kind auf die Welt kommen wird und kein Vater da ist.»
Die Tragödie erschüttert seine Freundin An-Sophie De Graeve. Ihre ganz persönliche Erinnerung an ihren Liebsten hat die 36-Jährige immer dabei. Egal ob bei der Beerdigung, bei einer Schweigeminute im Fussballstadion oder in anderen, einsamen Momenten – auf dem Arm trägt An-Sophie ein Stofftier. Es war sein erstes Geschenk für das bevorstehende Baby. «Die Wahrheit ist, dass Wouters Lieblingsparfüm auf diesem Stofftier war. Ich wollte ständig diesen Duft riechen. Seinen Duft», verriet sie gegenüber der belgischen Zeitung «Het Laatste Nieuws».
«In den Wehen wurde mir klar, dass er nicht mehr hier ist»
Vier Monate nach dem Unglück kam Alizée auf die Welt. «Da wurde ich am härtesten getroffen», erzählt die Mutter. Vorher habe sie sich lange eingeredet, dass Wouter nur Rennen fahren würde. Dass er einfach lange Zeit weg war. «In den Wehen im Krankenhaus wurde mir aber klar, dass er nicht mehr hier ist. Dass ich das allein machen muss.» Alizée ist es aber auch, die ihr neuen Lebensmut gibt. Sie habe nicht im Kummer stecken bleiben wollen. Sie ist heute glücklich, kostet das Leben vielleicht sogar noch intensiver aus. «Glück ist zerbrechlich», sagt sie.
Weylandt würde das gefallen. Cancellara beschreibt ihn als Draufgänger. «Er hat das Leben genossen», sagt der 40-Jährige. Kennengelernt hat er ihn im Winter vor dem Unglück. Weylandt kam neu ins Leopard-Team, gemeinsam testeten sie Velos. «Er war der erste Belgier, den ich kannte, der Bier nicht trinkt. Er hatte es nicht gern. Das habe ich vorher noch nie gehört und seither auch nicht», erinnert sich Cancellara.
Nach dem Drama seien bei ihm die schönen Erinnerungen bei der Beerdigung wieder in den Sinn gekommen. 2500 Leute waren vor Ort, als Weylandt in seinem Heimatort Gent beigesetzt wurde. «Gegen Ende lief plötzlich der Song ‹Sex on Fire› von den Kings of Leon. Das war sein Lied», verrät Cancellara. Die Emotionen haben dort alle übermannt, doch es habe gezeigt, was für ein Lebemann Weylandt gewesen sei.
Cancellara besuchte Weylandts Eltern
Er selber hat noch immer Kontakt mit der Familie Weylandt. Immer wieder hat er in den letzten zehn Jahren die Eltern getroffen. Zuletzt im März, als er nach langer Zeit wieder einmal in Belgien war und sie überraschte. «Es sind stille Emotionen, die man miteinander teilt. Ich habe grossen Respekt vor dieser Familie, die den Radsport lebt. Dieses Unglück prägt sie heute noch.»
Das zeigt auch die Tradition, die Schwester Elke Weylandt seit zehn Jahren pflegt. Sie ist noch immer Teil der Rad-Welt, arbeitet als Presseverantwortliche beim Team Trek-Segafredo. Jahr für Jahr schreibt sie einen Brief an ihren geliebten Bruder, der viel zu früh gegangen ist. Ihre Worte letztes Jahr: «Ich hätte nie gedacht, dass es mich jedes Jahr an deinem Todesdatum so hart treffen würde. Aber es gibt es kein Heilmittel gegen schwindelerregende Trauer.»