Heute Abend geht die Endrunde der Fussball-Europameisterschaft zu Ende. Nach dem Final werden alle Teams verloren haben, bis auf eines. Das gehört zur Natur der Sache, der Sport generiert mehr Verlierer als Sieger.
Doch auch Verlierer können einen inspirieren. So scheint ein grosser Teil der Schweizer Bevölkerung noch immer ein wenig euphorisiert zu sein von der Leistung des eigenen Nationalteams. Es ist wie nach einem langen Rausch. Es dauert eine Weile, bis sich der ganze Restalkohol verflüchtigt. Da und dort sieht man noch einen Freizeitsportler oder ein kleines Kind im roten Trikot mit dem weissen Kreuz durch die Gegend rennen. Im Bahnhof Olten sitzt ein alter Trinker beim Schnellimbiss. Auf der Rückseite seines roten Shirts mit der Nummer 10 steht «Xhaka». An manchen Balkonen hängen Schweizer Fähnchen oder rote Halstücher. Und in Werkstätten und Büros sind Seferovic, Gavranovic, Sommer und alle andern Helden noch immer ein beliebtes Gesprächsthema.
Ob dieser kollektive Rausch über den Schweizer Sieg gegen Frankreich unser Land nachhaltig zusammenschweisst, können wir getrost bezweifeln. Spätestens nach der nächsten sportlichen Enttäuschung werden wir wieder, wie echte Profifussballer, gedankenlos in alle Richtungen spucken.
51 Spiele in einem Monat
Die 16. Europameisterschaft war mit 24 teilnehmenden Mannschaften und 51 Spielen innerhalb eines Monats ein Ereignis der Superlative. Das Turnier wurde nicht, wie sonst üblich, in einem oder zwei Ländern ausgetragen, sondern in elf verschiedenen Staaten, verteilt über den ganzen Kontinent. Dass die europäischen Fussballfans ausgerechnet in Zeiten der Covid-19-Pandemie dazu eingeladen werden, als singende und johlende Grossgruppen in alle möglichen Staaten ein- und auszureisen und so den Virus so breit wie möglich zu streuen, wird irgendwann wohl als geschmackloser Herrenwitz in die Geschichte der Medizin eingehen. Die Spanische Grippe brauchte den Weltkrieg, um sich möglichst flächendeckend auszubreiten, Covid-19 brauchte eine Fussball-Europameisterschaft, aber nicht irgendeine, sondern die grösste und internationalste aller Zeiten, um gut im Flow zu bleiben.
Dabei war dieses Turnier zur Bestimmung des Europameisters einst eine kurze Angelegenheit. Noch im Jahr 1976 dauerte der gleiche Wettbewerb fünf Tage. Bei den ersten Austragungen nahmen jeweils vier Mannschaften an der Endrunde teil, und es wurden nicht 51, sondern bloss vier Spiele ausgetragen. In den folgenden Turnieren erhöhte sich die Anzahl teilnehmender Länder schrittweise auf 8, 16 und letztlich 24.
Ein inoffizielles Motto des internationalen Fussballs lautet: «Mehr geht immer!» Nicht bloss die Europameisterschaft, auch andere internationale Wettbewerbe wie etwa die Champions League, die Weltmeisterschaft oder der Continental Cup werden kontinuierlich ausgebaut. Mehr geht immer. Die Rechnung ist einfach: Wenn mehr gespielt wird, können mehr Spiele übertragen und von mehr Menschen angeschaut werden. Das generiert Mehreinnahmen für die Verbände, die Klubs und letztlich auch für die Fussballer.
Hochstehend wie noch nie zuvor
Doch zurück zu dieser Europameisterschafts-Endrunde, die wegen der Corona-Pandemie um ein Jahr verschoben werden musste. Das aktuelle Turnier hätte den 60. Geburtstag dieses Wettbewerbs feiern sollen, der 1960 erstmals durchgeführt worden war. Die erste Austragung gewann die Sowjetunion nach einem Finalsieg über Jugoslawien. Diese beiden Länder gibt es nicht mehr, doch die Europameisterschaft blüht wie nie zuvor. Nicht nur das Publikumsinteresse ist überdurchschnittlich, auch die Spiele selbst waren heuer spannend und hochstehend wie nie.
Das diesjährige Turnier startete schon sehr attraktiv, mit viel Offensivfussball und vielen Toren. Bald war festzustellen, dass es praktisch keine Teams gab, die destruktiv oder rein defensiv spielten. Und weil fast alle ihr Glück in der Offensive suchten, kam es zu unzähligen Torszenen und einem neuen Torrekord. Es gab kein überlegenes Spielsystem. Die Mischung aus hohem Tempo, hoher Intensität und hoher Ballsicherheit machte die Spiele attraktiv und die Resultate schwer voraussagbar.
Einer der wenigen, die den Schwung der ersten Spiele nicht mitnehmen konnten, war freilich der Fallschirmspringer von Greenpeace. Sein Protestflug gegen einen Autokonzern, der das Turnier massgeblich sponsert, wurde in München von einer Windböe entscheidend gestört. Die wegen der Windböe missglückte Landung im Stadion endete mit mehreren Verletzten. Greenpeace musste sich entschuldigen und Fehler eingestehen. Ausgerechnet das stürmische Wetter hatte der Klimademonstration den Garaus gemacht.
Gemeinsame Empörung von Fans und Fachleuten
Die meisten Menschen, die sich die einzelnen Spiele zu Gemüte führten, interessieren sich weniger für monetäre oder politische Aspekte. Sie suchten die Emotionen, die gemeinsame Trauer, die gemeinsame Euphorie, und wenn es sein musste, auch die gemeinsame Empörung. So wie nach der 0:3-Niederlage der Schweiz gegen Italien, als die Schweizer Volksseele überzukochen drohte. Das Team von Vladimir Petkovic hatte erst zwei Spiele absolviert, aber für viele Schweizer Fans und Fachleute war zu jenem Zeitpunkt schon klar, dass diese Nationalmannschaft weniger als nichts taugt.
Die Schweizer Fussballer hätten «in allen Belangen versagt», schrieb der «Tages-Anzeiger». «Sie wussten, dass sie mehr tun mussten als gegen Wales – aber sie wussten nicht wie», kritisierte die «NZZ», und der Blick schrieb unter anderem: «Es sieht danach aus, als hätten die Schweizer zu wenig Sprit im Tank.» Auch unter den Fans auf der Strasse war man sich erstaunlich einig darüber, dass wir es mit einer Truppe von miesen Charakteren und schlechten Kickern mit lausiger Kampfbereitschaft zu tun haben.
Auf einmal wurden vorher wenig beachtete Nebenmeldungen über die von den Schweizer Fussballern gefahrenen Sportwagen oder über die Beschaffenheit ihrer Kopfbehaarung zu Hauptnachrichten. Dem Team wurde Arroganz, fehlende Bodenhaftung und mangelndes Engagement vorgeworfen. In Leserkommentaren durfte wieder tagelang darüber lamentiert werden, dass die Mehrheit der Schweizer Spieler die Hymne nicht singen würde. Als hätte bis in die 1980er-Jahre überhaupt irgendein Fussballer auf der Welt irgendeine Hymne gesungen. Und selbstverständlich wurde, wie immer im Fall von Misserfolgen, die geografische Herkunft der Vorfahren mancher Nationalspieler thematisiert.
Nach zwei Spielen des Schweizer Nationalteams begann sich zu bestätigen, was langjährigen Beobachtern der Szene bereits bekannt war: Die Nationalmannschaft ist eine wunderbare Projektionsfläche für das komplizierte Nationalgefühl vieler Schweizerinnen und Schweizer. Nach einem 1:1 gegen Wales (immerhin ein Halbfinalist der letzten Europameisterschaft) und der klaren Niederlage gegen den späteren Finalisten Italien waren die Eidgenossen im eigenen Land bereits abgeschrieben.
Schweizer Mannschaft widersetzt sich dem Momentum
Der klare Sieg gegen die Türkei, den WM-Dritten von 2002, versöhnte bloss einen kleinen Teil der Schweizer Fans. Die ganz grosse Euphorie entfachte erst der unglaubliche Erfolg im Penaltyschiessen gegen den amtierenden Weltmeister Frankreich. Als die Schweizer, in Führung liegend, nach einem verschossenen Penalty innert weniger Minuten drei Gegentore kassierten und statt mit der erträumten 2:0-Führung plötzlich mit einem 1:3-Rückstand dastanden, zeigten sie eine unglaubliche Moral. Sie schafften etwas, was im Fussball auf diesem Niveau äusserst selten vorkommt. Sie stemmten sich gegen ein vermeintliches Naturgesetz, das sogenannte Momentum. Der Begriff Momentum, der hierzulande besonders im Eishockey Verwendung findet, besagt, dass ein Spiel, das einmal vom Spielstand und von der Emotion her klar in eine Richtung kippt, kaum mehr gedreht werden kann. Aber die vielgescholtenen Schweizer Fussballer foutierten sich an jenem
28. Juni in Bukarest um dieses Momentum und holten gegen eine Equipe von Weltstars und Traumtänzern in den letzten zehn Minuten zwei Tore auf.
Auch im Viertelfinal gegen den dreifachen Europameister Spanien hielt die Schweiz hervorragend mit. Xherdan Shaqiri, dessen Anwesenheit am Turnier von zahlreichen Journalisten bereits hinterfragt worden war, erzielte den Ausgleich zu einem Zeitpunkt, als die Schweiz begann, das Spiel gegen Spanien immer besser in den Griff zu kriegen. Es war Shaqiris drittes Tor an diesem Turnier. Die Eidgenossen waren im Flow, und wer weiss, was für sie noch dringelegen wäre, hätte der humorlose Schiedsrichter aus England ein hartes Tackling von Remo Freuler nicht mit einem Platzverweis bestraft.
Uefa verhindert Zeichen gegen Homophobie
Die Europameisterschaft der elf Gastgeberländer hätte auch die Europameisterschaft der Freundschaft und Toleranz werden können. Am Veranstaltungsort München wollten die Organisatoren vor dem Spiel Deutschland – Ungarn das Stadion in den Regenbogenfarben leuchten lassen, um ein Zeichen gegen die Homophobie des ungarischen Präsidenten Orban zu setzen. Der deutsche Captain Manuel Neuer trug eine regenbogenfarbene Captainbinde. Die Uefa verhinderte allerdings die entsprechende Beleuchtung des Stadions mit der Begründung, als Sportverband habe man politisch neutral zu sein. Diese Art von Neutralität dürfte zumindest den Präsidenten Russlands und Ungarns gut gefallen haben. Sie mussten so nicht fürchten, dass ihre Spielstätten Sankt Petersburg und Budapest durch irgendwelche Toleranzaktionen in München regenbogenfarben hätten befleckt werden können. Dass in Ungarns Hauptstadt Budapest vor dem Spiel Ungarn – Portugal Hunderte von rechtsextremen ungarischen Ultras mit dem Faschistengruss salutierten und faschistische Parolen skandierten, schien Ungarns Regierungschef dagegen weniger zu kümmern.
Pfiffe von den eigenen Fans gab es stattdessen für die Spieler Englands, die vor ihren Spielen niederknien, um sich dem stummen Protest der «Black Lives Matter»-Bewegung aus den USA anzuschliessen. Anders als die Stadionbeleuchtung in Regenbogenfarben wird der stumme Protest des Niederkniens von der Uefa ausdrücklich geduldet.
Ronaldo und der Limonaden-Aufreger
Nicht einmal still geduldet wurde dagegen der respektlose Umgang mit den Hauptsponsoren des Turniers. Als Cristiano Ronaldo bei einer Pressekonferenz zwei Flaschen einer weltweit nicht unbekannten Limonadenmarke vor sich stehen sah, räumte er diese demonstrativ weg mit dem Hinweis darauf, er trinke Wasser. Die Uefa erinnerte hierauf ihre Mitgliedsländer leicht gereizt daran, dass die Sponsorengelder sehr wichtig für alle seien. Ob und wie das jeweils beworbene Produkt zum Fussball oder zur Europameisterschaft passt, scheint die Verbandsoberen weniger zu kümmern. Dafür können sie für sich in Anspruch nehmen, eines der sportlich attraktivsten Turniere der Fussballgeschichte organisiert zu haben.
Noch lässt sich in diesen unsicheren Zeiten nicht besonders viel über die nächste Europameisterschaft sagen, die 2024 in Deutschland stattfinden soll. Eines wissen aber jetzt schon alle, die damit zu tun haben: Mehr geht immer.