Mit einer Paris-Goldgewinnerin durch Montmartre zu spazieren, ist wie eine zusätzliche olympische Disziplin. Gegen Mittag bevölkern Scharen von Touristen den Hügel im Norden der Stadt, der die künstlerische Hochburg der Metropole darstellt. Blick ist mit Chiara Leone zwar früh morgens unterwegs – doch die Goldmedaille? Klar, dass die nicht unbemerkt bleibt.
Selbst eine Polizeipatrouille gratuliert der 26-jährigen Aargauerin, die im Dreistellungskampf über 50 m triumphierte, und fragt sogar artig nach einem Erinnerungsfoto. Nach einem kurzen Abstecher vor der Sacré-Cœur-Basilika, mit fantastischer Aussicht über die Dächer von Paris, gehts weiter auf den Place du Tertre.
Dort wartet der bereits vorgewarnte Künstler Davy, ein älterer Herr mit Hornbrille und Schiebermütze, der vor lauter Aufregung, dass da tatsächlich eine olympische Championne vor ihm steht, erst einmal ins nächste Café rennt. «Einen Moment», flüstert er und kehrt wenig später mit einem Espresso zurück: «So viel Druck hab ich für ein Porträt noch nie gehabt.» Sein Auftrag: Er soll Chiara Leone mit der Goldmedaille zeichnen. Ein Bild für die Ewigkeit. Für die einzige Schweizer Olympiasiegerin der Sommerspiele 2024.
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Davy ist grosses Kino. Der Mann, in Malaysia geboren und über London im Jahr 1981 nach Paris gekommen, hat immer einen Spruch auf den Lippen. Er gibt sich beim Porträtieren alle Mühe der Welt und interviewt Chiara Leone ganz nebenbei im Stile eines gewieften Journalisten. Vom Gewicht der Medaille (529 Gramm) bis zur Prämienausschüttung von Swiss Olympic für eine Siegerin (50’000 Franken) will er alles wissen. Chiara Leone antwortet amüsiert, sagt aber irgendwann: «Vom Posieren schmerzt mir langsam das Gesicht.» Derweil nimmt eine grosse chinesische Reisegruppe den Platz ein – und Chiara Leone wird, immer noch auf dem Stühlchen sitzend, von vorne und hinten belagert. Ein Foto hier, ein Selfie da. Chiara Leone, Superstar!
Erst als die Gruppe von dannen zieht, kann die Fricktalerin ein erstes Mal durchatmen. «Der Rummel ist schon unglaublich, aber ich versuche auch, es so gut wie möglich zu geniessen», sagt sie, die zwischenzeitlich für zwei Tage in ihrer WG in Biel war, um danach wieder nach Frankreich zurückzukehren. Weil die Schiess-Wettkämpfe in Châteauroux stattfanden, 270 km weiter südlich, ist Chiara Leone während dieser Spiele das erste Mal in Paris. Angereist ist sie in erster Linie für einen offiziellen Empfang im «Maison Suisse» und für die Schlussfeier am Sonntag im Stade de France. Zusammen mit anderen Schützen, etwa Teamkollege Christoph Dürr, der sie beim Montmartre-Ausflug begleitet, wohnt sie im Olympischen Dorf, «um noch so viel Flair aufzusaugen wie möglich».
Nonna Candida feiert ihren 90. mit Gold ihrer Enkelin
Das Gute am Porträtzeichnen: Es dauert ziemlich lange. Also bleibt auch Zeit, ernstere Themen anzusprechen. Wie die psychische Erschöpfung von Teamkollegin Nina Christen, in welche die Olympiasiegerin von Tokio nach ihrem grossen Erfolg vor drei Jahren fiel. Hat Leone auch Respekt davor? Die Schützin sagt: «Ich habe schon in Tokio mitbekommen, wie gross der Trubel sein kann. Und ich tauschte mich mit Nina aus, als sie damals wieder zurück ins Training kam. Ich glaube, zumindest ein gewisser Lagerkoller wird auch bei mir eintreten. Doch ich fühle mich gut vorbereitet darauf.» Vom Schiesssportverband käme hierbei Unterstützung, auch mit einem Sportpsychologen habe sie deswegen schon gesprochen.
Aktuell aber wolle sie noch jede Minute des Feierns auskosten, meint Chiara Leone und erzählt, dass sie selbst in Süditalien Begeisterungsstürme ausgelöst hätte. Dort, in der Nähe von Neapel, wohnt nämlich ein Teil ihrer italienischen Verwandtschaft. «Sie haben offenbar ebenfalls ein Fest für mich geschmissen. Und ich habe natürlich noch am Tag meines Sieges direkt meine Nonna Candida angerufen. Sie wurde gerade 90 und sagte mir, ich hätte ihr das schönste Geburtstagsgeschenk überhaupt gemacht», so Leone.
Zwischendurch meldet sich auch Künstler Davy wieder mal zu Wort: «Chiara, deine Augen. Du kannst schon plaudern, aber ich brauche deine Augen!» Und dann zeichnet und schraffiert er weiter, während die Olympionikin verrät, dass nun im Herbst ein grosser Südamerika-Trip auf sie warte: «Zuerst wohne ich in Ecuador bei einer Gastfamilie, um Spanisch zu lernen. Danach möchte ich noch ein wenig reisen.» Es sei eigentlich die Belohnung für die starke letzte Saison, in der sie international den Durchbruch schaffte. Ein Geschenk für den Olympiasieg in Paris werde jedoch auch noch folgen, «aber ich weiss noch nicht was».
Zwischen Sauerstoffflasche und besonderem Souvenir
Nun, ein erstes hält sie wenig später bereits in ihren Händen. Das fertige Porträt, unterzeichnet von Davy, dem charmanten Zeichner, der nach der Fertigstellung seines Kunstwerks ganz nebenbei offenbart, dass er an einer Lungenkrankheit leide und deshalb als Nächstes dringend seine Sauerstoffflasche konsultieren müsse. Für die Überreichung des Papiers reicht die Luft gerade noch – und Chiara Leone goutiert den Effort des älteren Herrn mit einem Strahlen: «Zeichnen war früher nie meine Paradedisziplin» meint sie lachend, darum überlasse sie das gerne anderen: «Dieses Bild ist echt schön geworden. Ein tolles Souvenir aus Paris! Merci beaucoup.»
Auch die Augen von Davy leuchten. Er hat seinen Künstlerkollegen, die dort teilweise fast Schulter an Schulter nebeneinander sitzen, nun etwas zu erzählen. Er schlurft Richtung Sauerstoffflasche, während Chiara Leone eilig die Medaille im Rucksack versteckt: «Ein bisschen Ruhe vom ganzen Rummel ist jetzt ganz gut.»