Bergsteiger Oelz über die Faszination Mount Everest
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«Das war wahnsinnig!»:Bergsteiger Oelz über die Faszination Mount Everest

Vor 70 Jahren wurde der höchste Berg zum ersten Mal bezwungen
Fast hätte ein Schweizer als Erster den Everest erklommen

Wenig hätte gefehlt, und der Genfer Raymond Lambert wäre 1952 der erste Mensch auf dem Mount Everest gewesen. Warum er gescheitert ist. Und weshalb er trotzdem Geschichte geschrieben hat.
Publiziert: 29.05.2023 um 01:14 Uhr
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Zusammen mit Sherpa Tenzing Norgay stellte Lambert damals einen neuen Höhenweltrekord auf.
Foto: Schweizerische Stiftung für Alpine Forschung
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Daniel LeuStv. Sportchef

Wer heute an die Erstbesteigung des Mount Everests denkt, der denkt an die Namen Edmund Hillary und Tenzing Norgay. Vor 70 Jahren, am 29. Mai 1953, erreichte das Duo den höchsten Punkt der Erde, den Gipfel auf 8848 Metern über Meer. Es war ein Tag für die Geschichtsbücher und der Tag, an dem der Neuseeländer und der Nepalese unsterblich wurden. Doch wenig hätte gefehlt, und wir würden heute nicht noch immer von Hillary und Norgay schwärmen, sondern vom Genfer Raymond Lambert und Norgay.

Rückblende. Am 26. März 1952 erreicht die Schweizer Himalaya-Expedition die nepalesische Hauptstadt Kathmandu. Ihr ehrgeiziges Ziel: die Erstbesteigung des Mount Everests. Zum Team des Genfer Bergsteigerklubs L’Androsace gehören Leiter Edouard Wyss-Dunant, René Dittert, Gabriel Chevalley, Léon Flory, René Aubert, André Roch, Jean-Jacques Asper, Ernst Hofstetter und eben Raymond Lambert. Unterstützt werden sie vom Sherpa Tenzing Norgay. Mit im Gepäck: Unmengen von Büchsen-Ravioli, die ihnen mit der Zeit zum Hals heraushängen, Kondensmilch, Käse, Dörrbohnen, Haselnüsse und … Zigaretten.

Lambert ist damals 37 Jahre alt und hat seit einem Zwischenfall am Mont Blanc keine Zehen mehr. Der 28. Mai 1952 ist der Tag, an dem er Historisches schaffen will. Zusammen mit Norgay ist er am Vortag auf über 8600 Metern auf dem Everestgrat angekommen. Die restlichen Teilnehmer sind bereits umgekehrt, weil sie höhenkrank wurden.

Neuer Höhenweltrekord für Lambert

Das Drama nimmt seinen Lauf. «Eine furchtbare Nacht beginnt», wird Lambert später schildern, «wir haben sozusagen nichts zu essen, ein bisschen Käse, ein Würstchen, eine Kerze, um etwas Schnee zu schmelzen – das ist alles. In diesem kleinen Zelt auf dem Everestgrat hebt ein schrecklicher Kampf gegen die Kälte an. Wir klopfen uns gegenseitig die ganze Nacht und massieren unsere Glieder, die langsam gefühllos werden.»

Als das Duo nach dieser unruhigen Nacht am 28. Mai 1952 frühmorgens losläuft, wird das Wetter immer schlechter. «Schnee peitscht in unser Gesicht. Der Sauerstoff, den wir von Zeit zu Zeit einatmen, gewährt nur vorübergehende Erleichterung. Ohne viel Worte begreifen Tenzing und ich, dass wir aufgeben müssen.»

Everest-Meilensteine

1922
Eine britische Expedition ist die erste, die offiziell das Ziel hat, den Gipfel zu erreichen. Sie schafft eine Höhe von über 8300 Metern.

1952
Die Schweizer Expedition um Raymond Lambert (und Sherpa Tenzing Norgay) stellt mit rund 8600 Metern einen neuen Höhenrekord auf.

1953
Am 29. Mai gegen 11.30 Uhr schreiben Edmund Hillary und Tenzing Norgay Geschichte: Der Mount Everest ist endlich bezwungen.

1956
Innerhalb von 24 Stunden erreichen gleich vier Schweizer erstmals den Gipfel: Ernst Schmied, Jürg Marmet, Hansruedi von Gunten und Dölf Reist.

1975
22 Jahre nach Hillary und Norgay schafft es mit der Japanerin Junko Tabei die erste Frau auf den Everest.

1978
Der Südtiroler Reinhold Messner und der Österreicher Peter Habeler sind die ersten Bergsteiger, die ohne Sauerstoff das Dach der Welt erreichen.

1986
Erhard Loretan und Jean Troillet sind die ersten Schweizer, die ohne Sauerstoff auf dem Gipfel ankommen.

2001
Mit Evelyne Binsack besteigt erstmals eine Schweizer Frau den höchsten Berg der Welt.

1922
Eine britische Expedition ist die erste, die offiziell das Ziel hat, den Gipfel zu erreichen. Sie schafft eine Höhe von über 8300 Metern.

1952
Die Schweizer Expedition um Raymond Lambert (und Sherpa Tenzing Norgay) stellt mit rund 8600 Metern einen neuen Höhenrekord auf.

1953
Am 29. Mai gegen 11.30 Uhr schreiben Edmund Hillary und Tenzing Norgay Geschichte: Der Mount Everest ist endlich bezwungen.

1956
Innerhalb von 24 Stunden erreichen gleich vier Schweizer erstmals den Gipfel: Ernst Schmied, Jürg Marmet, Hansruedi von Gunten und Dölf Reist.

1975
22 Jahre nach Hillary und Norgay schafft es mit der Japanerin Junko Tabei die erste Frau auf den Everest.

1978
Der Südtiroler Reinhold Messner und der Österreicher Peter Habeler sind die ersten Bergsteiger, die ohne Sauerstoff das Dach der Welt erreichen.

1986
Erhard Loretan und Jean Troillet sind die ersten Schweizer, die ohne Sauerstoff auf dem Gipfel ankommen.

2001
Mit Evelyne Binsack besteigt erstmals eine Schweizer Frau den höchsten Berg der Welt.

Der Traum vom Gipfel, er ist geplatzt. Doch das ist nur auf den ersten Blick eine Niederlage. Und zwar aus drei Gründen. Erstens: Wären sie nicht rechtzeitig umgekehrt, wären sie wohl gestorben. So aber überlebten alle ohne grössere körperliche Schäden, auch jene, die schon zuvor aufgegeben hatten. Zweitens: Lambert und Norgay stellten mit rund 8650 Metern einen neuen Höhenweltrekord auf. Und drittens: Auch dank ihrer Vorarbeit schafften ein Jahr später Hillary und eben dieser Norgay die Erstbesteigung.

Sie mussten vertrocknet klettern

Für den österreichisch-schweizerischen Arzt und Bergsteiger Oswald Oelz gibt es vor allem zwei Erklärungen, warum es die Schweizer Expedition doch nicht geschafft hat. Der 80-Jährige weiss, wovon er spricht. Er hat ein Buch über die damalige Expedition geschrieben und er stand 1978 selber auf dem Gipfel des Mount Everests.

Die falsche Sauerstofftaktik. Oelz: «Dass die Schweizer nicht zum Gipfel kamen, wurde durch einen Zürcher Professor für Physiologie verursacht. Er beriet die Schweizer und war der Meinung, dass man Sauerstoff im Körper tanken kann. Er dachte, man könne jeweils eine Pause machen, Sauerstoff zuführen, so ein Depot im Körper anlegen und danach weiter klettern. Aus heutiger Sicht ein Unsinn.»

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«Wären sie nicht rechtzeitig umgekehrt, wären sie möglicherweise gestorben.»
Bergsteiger Oswald Oelz (80)
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Der Flüssigkeitsmangel. Oelz: «In dieser Höhe müsste man zwei bis drei Liter trinken, weil durch die vertiefte, beschleunigte Atmung sehr viel Wasserdampf und damit Flüssigkeit in die Luft entschwindet. Doch Lambert und Norgay hatten nur einen lausigen Kocher mit dabei und tranken deshalb viel zu wenig. Sie sind quasi vertrocknet geklettert.»

Für Oelz sind Lambert und Norgay im Rückblick trotzdem Gewinner. «Wären sie nicht rechtzeitig umgekehrt, wären sie möglicherweise gestorben. Viele Bergsteiger haben sich schon in ähnlichen Situationen aus Erschöpfung kurz hingesetzt, sind dann weggedöst und dadurch erfroren.»

Todesfälle am Mount Everest

Gemäss «The Himalayan Database» kamen am Mount Everest schon 323 Bergsteigerinnen und Bergsteiger ums Leben. Darunter auch drei Schweizer:

  • Der Schweizer Software-Ingenieur Abdul Waraich starb 2021 beim Abstieg vom höchsten Berg der Welt. Todesursache Erschöpfung.
  • Der Tessiner Gianni Goltz starb 2008 während Dreharbeiten zum Dokumentarfilm «Sherpas – die wahren Helden am Everest». Goltz kam beim Abstieg auf etwa 8200 Meter Höhe ums Leben. Zwei Jahre später fanden Sherpas seine Leiche.
  • Der Berner Arzt Simon Burkhardt war 1986 auf dem Weg zum Lhotse und Everest, als ihn eine Lawine in den Tod riss.

Besonders tragisch war das Jahr 2014. Damals liessen gleich 17 Menschen am Mount Everest ihr Leben. Seit 1981 gab es nur in einem Jahr keine Todesfälle: 2020, weil damals wegen Corona keine Besteigungen möglich waren.

Gemäss «The Himalayan Database» kamen am Mount Everest schon 323 Bergsteigerinnen und Bergsteiger ums Leben. Darunter auch drei Schweizer:

  • Der Schweizer Software-Ingenieur Abdul Waraich starb 2021 beim Abstieg vom höchsten Berg der Welt. Todesursache Erschöpfung.
  • Der Tessiner Gianni Goltz starb 2008 während Dreharbeiten zum Dokumentarfilm «Sherpas – die wahren Helden am Everest». Goltz kam beim Abstieg auf etwa 8200 Meter Höhe ums Leben. Zwei Jahre später fanden Sherpas seine Leiche.
  • Der Berner Arzt Simon Burkhardt war 1986 auf dem Weg zum Lhotse und Everest, als ihn eine Lawine in den Tod riss.

Besonders tragisch war das Jahr 2014. Damals liessen gleich 17 Menschen am Mount Everest ihr Leben. Seit 1981 gab es nur in einem Jahr keine Todesfälle: 2020, weil damals wegen Corona keine Besteigungen möglich waren.

Wie gefährlich Bergsteigen ist, hat Oswald Oelz, der von 1991 bis 2006 Chefarzt am Zürcher Stadtspital Triemli war, auch am eigenen Leib erfahren. «Wenn Sie sich regelmässig in diesen Bereich und diese Höhe begeben, kommen gegen 50 Prozent der Menschen um. Auch ich hatte ein paarmal Glück, besonders 1984 am Dome Glacier, einem Nebengipfel der Annapurna, als ich höhenkrank wurde. Das hat mich ein paar Zehen und einige Hirnzellen gekostet …»

Was Raymond Lambert und seinen Kollegen 1952 nicht gelang, schaffte Oelz ein Vierteljahrhundert später. Als Reinhold Messner und Peter Habeler am 8. Mai 1978 als erste Menschen ohne Zuhilfenahme von Flaschensauerstoff das Dach der Welt bestiegen, war Oelz mit dabei.

Wird Oelz heute, 45 Jahre später darauf angesprochen, wird er noch immer emotional. «Ich bin normalerweise nicht so sentimental, aber wenn ich daran zurückdenke, kommen mir die Tränen.»

Nach einigen Sekunden des Schweigens spricht er weiter: «Es war der Höhepunkt meines alpinistischen Lebens. Als ich oben ankam, war das magisch und gleichzeitig irrsinnig, denn ich hätte nie gedacht, dass ich das mal schaffen würde. Ich blieb dann rund 45 Minuten oben und genoss jede einzelne Sekunde.»

Ein Moment, der Lambert 1952 verwehrt blieb.

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