Wofür andere Athleten eine ganze Karriere benötigen, braucht Dominic Lobalu (25) einen Monat. Am 14. Mai bekommt er am Swiss-Athletics-Medientag auf der Wankdorf-Leichtathletikanlage symbolisch sein erstes Schweizer Läuferdress überreicht, kurz zuvor war vom Weltverband die ersehnte Starterlaubnis eingetroffen.
Einen Monat danach, an der EM, läuft Lobalu, der frühestens 2032 eingebürgert werden kann, ohne Schweizer Pass erstmals für die Schweiz. Und wird mit 5000-Meter-Bronze und der Gold-Krönung über 10'000 Meter zum erfolgreichsten Schweizer Vertreter in Rom.
Vom staatenlosen Flüchtling zum Europameister, der im ganzen Rummel ruhig bleibt, in Interviews mit leiser Stimme auf Deutsch Antwort gibt und bei SRF-Kälin im Siegerinterview wegen des Stadionlärms zuerst entgegnet, dass er die erste Frage nicht verstanden hat. Die Schweiz hat einen EM-Helden aus dem Nichts. Die Geschichte von Lobalu ist ebenso beispiellos wie faszinierend und beklemmend.
Flucht vom Flüchtlingsteam nach einem Rennen in Genf
Als Neunjähriger muss er miterleben, wie Soldaten seine Eltern umbringen. Als Vollwaise aus dem Südsudan wird er zum Flüchtling, er kommt mit seiner Schwester in ein Lager in Kenia. Den Laufsport entdeckt Lobalu in Kenia als bereits 15-Jähriger. Aber sein Talent ist derart offensichtlich, dass er ins kenianische Flüchtlingsteam aufgenommen wird.
2017 ist er so an der WM in London am Start. 2019 läuft er mit dem Flüchtlingsteam ein Rennen in Genf. Lobalu gewinnt – und setzt sich am Tag darauf mit zwei weiteren Läufern ab. Lobalu beantragt in der Schweiz Asyl. Zuerst landet er in Chiasso, dann kommt er in die Asylunterkunft in Ennetbühl SG. Eine glückliche Fügung, denn es hatte sich schon bis zum St. Galler LC-Brühl-Trainer Markus Hagmann herumgesprochen, dass da ein Läufer-Rohdiamant ins Land gekommen ist.
Aus einem Probetraining bei Hagmann entwickelt sich das Schweizer Leichtathletik-Märchen um Lobalu, der mittlerweile die Aufenthaltsbewilligung besitzt und so nicht mehr als Flüchtling gilt.
Kein Olympia-Start für die Schweiz
Das Märchen geht an den Olympischen Spielen in Paris aber nicht weiter, zumindest nicht für die Schweiz. Der Exekutivrat des Internationalen Olympischen Komitees (IOC) hielt am Donnerstag anlässlich seiner Sitzung in Lausanne fest, dass Dominic Lobalu kein Schweizer Staatsbürger sei und deshalb gemäss olympischer Charta nicht für die Schweiz starten dürfe. Wird der neue Europameister damit zum Spielball der Sportpolitik, weil er 2019 das vom IOC mitgetragene Flüchtlingsteam in einer Nacht- und Nebelaktion verliess?
Immerhin: Da der 25-Jährige die geforderten Limiten und Resultate aufweist sowie anerkannter Flüchtling ist, wird er eingeladen, als Teil des bislang 36-köpfigen IOC-Flüchtlingsteams bei den Spielen teilzunehmen. Ob er dieses Angebot annimmt, ist offen.
Der Schweizer Leichtathletikverband nimmt den IOC-Entscheid mit Verwunderung und Unverständnis zur Kenntnis. «Swiss Athletics wartet auf Informationen des IOC und wird nach deren Erhalt zusammen mit Dominic Lobalu und dessen Team das weitere Vorgehen besprechen. Ziel von Swiss Athletics ist es, Dominic Lobalu eine erfolgreiche Olympiateilnahme zu ermöglichen», heisst es in einer Mitteilung des Verbands.