Blick: Sarah Atcho-Jaquier, Sie liegen krank im Bett. Kann das an den vielen Emotionen liegen, die Sie am Mittwochabend mit der Sprintstaffel in Rom erlebt haben?
Atcho-Jaquier: Seit Beginn der EM hatte ich das Gefühl, dass ich gegen eine kleine Erkältung kämpfe. Ich habe alle möglichen Vitamine genommen, um den Moment hinauszuschieben, richtig krank zu werden. Doch jetzt kann ich mich einfach ausruhen.
Das Drama mit dem scheinbar zunächst hauchdünn verpassten Podestplatz, dem verlorenen Stab und der Disqualifikation ist bald 48 Stunden her. Wie gehts Ihnen mit etwas Abstand zum Rennen?
Ich fühle mich, als würde ich endlich aus diesem Alptraum erwachen. Zum Glück macht sich die Zeit bemerkbar. Ich kann mich ein wenig von all den Schuldgefühlen befreien.
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War Rom einer der schlimmsten Momente ihrer Karriere?
Ich habe das Gefühl, dass ich ein ganzes Land enttäuscht habe. Und doch habe ich so viele Nachrichten von Leuten erhalten, die mir mitteilten, dass es nicht meine Schuld war. Dass wir vier in einem Team sind. Dass wir nicht eingeholt worden wären, wenn ich ein bisschen mehr Spielraum gehabt hätte. Viele Leute geben mir nicht die Schuld dafür. Das ist beruhigend.
Direkt nach dem Rennen wollten Sie von all dem nichts hören.
Die aufbauenden Nachrichten tun wirklich gut. Ich wäre am Boden zerstört gewesen, wenn ich Nachrichten mit Beschimpfungen gekriegt hätte. Aber bisher hat mir niemand etwas Negatives gesagt.
Wie werden Sie sich von diesem Vorfall erholen?
Wenn ich solche Tiefpunkte in meiner Karriere erlebe, fühle ich mich gedemütigt. Doch ich weiss, dass mich das jeden Tag im Training motivieren wird.
Haben Sie sich das Rennen noch mal angesehen?
Wir haben noch keine Analysen von den Trainern erhalten. Ich übernahm den Staffelstab an dritter Stelle und sah später auf den Bildern, dass die Deutsche auch nicht weit weg war. Zum Glück konnte ich sie abhängen, sonst hätte mich das noch mehr verkrampfen können. Leider blieb die Holländerin im letzten Duell stabiler und brachte das Podest nach Hause.
Haben Sie viel Unterstützung von den Teamkolleginnen erhalten?
Ich war erleichtert, als ich merkte, dass sie alle hinter mir standen. Nicht eine einzige schien frustriert zu sein. Es ist leicht, in das Gesicht eines Menschen zu schauen, der sagt: «Nein, es ist nicht deine Schuld», obwohl er es nicht so meint. In diesem Fall waren sie alle aufrichtig. Sie hatten Mitleid mit mir und versuchten, mich davon abzuhalten, mir die Schuld in die Schuhe zu schieben. Das war supersüss.
Ich habe gesehen, dass Ihr Mann Arnaud in Rom war. Hat Ihnen die Unterstützung nach dem ganzen Drama gutgetan?
Nach dem Rennen habe ich sein T-Shirt vollgeweint. Zum Glück war er da, denn es ist sehr persönlich, so sehr zu weinen und so enttäuscht zu sein. Wäre er nicht da gewesen, hätte ich mich nicht so fallenlassen können, das wäre ein zusätzlicher Frust gewesen.
Haben Sie mit dem EM-Rennen womöglich den Platz in der Staffel an Olympia aufs Spiel gesetzt?
Ich glaube nicht, dass es gleich um die Staffelteilnahme geht. Aber vielleicht ist nun fraglich, ob ich als Letzte starten werde, vielleicht bin ich nicht die Richtige als Schlussläuferin. Aber ich habe wirklich alles gegeben und denke, die Trainer haben das gesehen. Sie haben für die Spiele sowieso sehr viele Optionen, alles ist noch offen.