Blick: Ajla del Ponte, Sie haben den Schweizer Rekord über 100 m auf 10,90 Sekunden geschraubt, sie waren im Olympia-Final, Sie sind dieses Jahr die schnellste Frau Europas. Wie klingt das?
Del Ponte: Schnellste Frau Europas… das ist immer noch total komisch. Wie auch der Gedanke daran, dass ich Olympia-Fünfte wurde. Meine Reaktion ist immer noch: «Hä? Bin ich das wirklich?» Ich muss das alles erst noch realisieren. Aber es ist auch Motivation, noch schneller zu werden. Mujinga (Kambundji, d. Red.) und ich werden noch ein paar Mal den Schweizer Rekord brechen. Das Niveau wird immer höher, alle wollen schneller werden. Wir verschieben die Grenzen.
Sie sind so schnell, dass Sie letztes Wochenende in Bern gefragt wurden, ob Sie mit ihren 11,04 Sekunden zufrieden sind.
Ja. Vor einem Jahr wäre das noch meine persönliche Bestzeit gewesen. Ich war damit völlig zufrieden, wenn man bedenkt, dass ich ein paar technische Fehler drin hatte. Unter 11 Sekunden zu laufen, ist nicht selbstverständlich. 10,9 Sekunden, das klingt für mich immer noch magisch. Und ungewohnt: Ich sage immer aus Versehen 11,90. So ganz habe ich es noch nicht drin.
Das ist das Fiese an ihrer Sportart. Es gibt keine Grauzone. Die Zeit ist alles.
Das ist das faszinierende. Man kann nicht lügen. Ich bin die einzige, die beeinflussen kann, was auf der Uhr steht. Wir arbeiten im Training und im Wettkampf bekommen wir unseren Lohn. In einem Teamsport können Sie sich immer noch auf die Mannschaftskameradinnen verlassen.
Ajla del Ponte (25) katapultierte sich in neue Sphären. Bei Olympia in Tokio lief sie über 100 m den Schweizer Rekord und landete als Fünfte inmitten der Weltspitze. Zuletzt in La Chaux-de-Fonds verbesserte sie ihren eigenen Rekord auf 10,90 Sekunden. Seit dem Jahr 2020 geht ihr Stern auf. Sie gewann bei zwei Diamond-League-Meetings, wurde dann Anfang 2021 Hallen-Europameisterin über 60 m und egalisierte den Schweizer Rekord (7,03). Del Ponte stammt aus Locarno, trainiert aber in Papendal (Ho) bei Coach Laurent Meuwly. Sie studiert neben dem Sport italienische Literatur in Lausanne.
Ajla del Ponte (25) katapultierte sich in neue Sphären. Bei Olympia in Tokio lief sie über 100 m den Schweizer Rekord und landete als Fünfte inmitten der Weltspitze. Zuletzt in La Chaux-de-Fonds verbesserte sie ihren eigenen Rekord auf 10,90 Sekunden. Seit dem Jahr 2020 geht ihr Stern auf. Sie gewann bei zwei Diamond-League-Meetings, wurde dann Anfang 2021 Hallen-Europameisterin über 60 m und egalisierte den Schweizer Rekord (7,03). Del Ponte stammt aus Locarno, trainiert aber in Papendal (Ho) bei Coach Laurent Meuwly. Sie studiert neben dem Sport italienische Literatur in Lausanne.
Wären Sie eine gute Teamsportlerin?
Ja. Ich bin ein totaler Teamplayer, darum liebe ich auch die Staffel. Ich tue, was gut fürs Team ist. Mir ist es wichtig, dass alle glücklich sind. In der Trainingsgruppe versuche ich dafür zu sorgen, dass es allen gut geht. Das gibt auch mir ein gutes Gefühl.
Wie lässt sich das mit dem Job der Sprinterin vereinbaren, wo ein Killerinstinkt gefragt ist?
Ich musste lernen, viel mehr auf mich zu schauen. Mein Trainer Laurent Meuwly hat mir immer gesagt: «Du bist zu freundlich, zu nett.» Zu gentile, wie wir auf italienisch sagen.
Jetzt sind Sie jetzt weniger gentile?
Ich habe entschieden, immer noch gentile zu sein (lacht). Aber ich denke weniger darüber nach, was die anderen denken und machen. Ich fokussiere mich voll auf mich. In Tokio ist mir das gut gelungen. Früher hätte ich auch während den Einzel-Starts über 100 m an die anderen gedacht. Jetzt habe ich das erst getan, als es mit der Staffel losging.
Sie sind bei all Ihren Bestzeiten in Socken mit dem Konterfei von Star-Wars-Bösewicht Darth Vader gesprintet. Hilft er Ihnen, egoistischer zu sein?
(lacht.) Er steht auf der dunklen Seite der Macht, ja. Darth Vader ist böse, vielleicht ist da etwas dran. Auf jeden Fall scheint es zu funktionieren.
Ihr Naturell scheint im Sprint selten zu sein. Da gibt es viele Athletinnen mit riesigen Egos.
Für viele gehört es dazu. Manche wollen auch provozieren, das haben wir im 100er bei den Frauen immer wieder gesehen. Sha’Carri Richardson zum Beispiel mit ihrem «It's game time, bitches»-Video vor der Diamond League in Eugene. Das ist Provokation, das gehört ein bisschen dazu. Aber ich kann das nicht. Das ist nicht mein Stil.
Bei Richardson ist es nicht so gut herausgekommen. In Eugene lief sie hinterher.
(schweigt und zieht eine Grimasse.)
Apropos schillernde Figuren: Am Donnerstag sind die jamaikanischen Superstars Elaine Thompson-Herah und Shelly-Ann Fraser-Pryce in Lausanne am Start. Welche Beziehung haben Sie zu ihnen?
Ich kenne sie nicht sehr gut. Ich sage «Hallo». Shelly-Ann sagt mittlerweile auch «Hallo». Seit Doha 2019 kennt sie mich, glaube ich. Man sieht sich, wünscht sich einen guten Tag. Mehr war da noch nie.
Dass die Jamaikanerinnen Hallo sagen – heisst das, dass Sie jetzt dazugehören?
Die Frage stellt sich nicht mehr. Ich bin nach dem Olympia-Final die Nummer 5 der Welt. Das habe ich schwarz auf weiss, das kann man mir nicht wegnehmen. Natürlich gehöre ich dazu. Aber es ist ein Gefühl, das ich mir erarbeiten musste. Ich hatte ganz lange das Gefühl, dass ich nicht da hingehöre. 2018 an der Hallen-WM in Birmingham zum Beispiel war ich mit Elaine im Halbfinal, ich habe sie angeschaut, wusste, sie ist Olympiasiegerin, sie ist Weltmeisterin, und ich habe total zittrige Knie bekommen. Mit meinem Mentaltrainer habe ich viel an meinem Selbstvertrauen gearbeitet. Jetzt bin ich an einem anderen Punkt. Und ich habe ein ganz anders Standing.
Thompson-Herah ist letzte Woche 10,54 Sekunden gelaufen, die zweitschnellste Zeit der Geschichte…
…das Niveau der beiden Jamaikanerinnen ist unglaublich. Es gibt auch bei den Männern nicht so viele, die 10,54 laufen können. Ihren Lauf habe ich mir oft angeschaut, da kann ich mir viel abschauen. Die 10,63 von Shelly-Ann auch. Ich hoffe, ich bin eines Tages auch so schnell.
Wie oft haben Sie sich die Wiederholung des Olympia-Finals eigentlich schon angeschaut?
Nicht so oft.
Wirklich nicht?
Nein. Ich will mir das Gefühl bewahren, das ich in diesem Moment hatte. Und nicht das gleiche Erlebnis haben wie alle anderen. Es gibt doch diese Fotos aus der Kindheit: Wenn man die sieht, denkt man, man erinnere sich. Dabei erinnert man sich nur an das Bild, nicht an den Moment. Das will ich nicht, ich will mich einfach an das Gefühl erinnern, das ich im Olympia-Final hatte.
Und wie war das Gefühl?
Krass. Ich habe keine Worte dafür, auch nicht auf italienisch. Das kann ich nicht beschreiben. Man träumt sein ganzes Leben davon. Aber man kann das doch nicht erwarten. Ich habe Shelly-Ann 2012 in London im TV im Olympiafinal gesehen, und neun Jahre später bin ich auch da. Es ist Wahnsinn.
Am Donnerstag läuft Ajla Del Ponte bei Athletissima in Lausanne über 100 Meter (ebenso Mujinga Kambundji). Das Meeting beginnt um 18.00 Uhr (SRF Zwei ab 20.00 Uhr), das 100 Meter-Rennen der Frauen ist für kurz nach 21.00 Uhr geplant.