Es ist ein grosser Tag in Tokio. Ajla Del Ponte (25) und Mujinga Kambundji (29) gelingt, was vor nicht allzu langer Zeit niemand für möglich hielt. Die beiden sprinten in den 100-m-Olympia-Final! Als am Samstagabend im Olympiastadion von Tokio die grosse Show beginnt, stehen drei Jamaikanerinnen am Start, eine Engländerin, eine Ivorerin, eine Amerikanerin– und die zwei Schweizerinnen.
Es wird das Rennen ihres Lebens: Hinter den vier, die laufen wie von einem anderen Stern (die Jamaikanerinnen um Olympiasiegerin Thompson-Herah und die Ivorerin Ta Lou), kommen schon Del Ponte (5.) und Kambundji (6.). Riesig!
«Mir fehlen die Worte», sagt Del Ponte und denkt zurück an die Spiele 2012 in London. «Ich war 16 Jahre alt, habe das Olympia-Rennen im Fernsehen geschaut und gedacht, ‹Wow, vielleicht kann ich auch einmal an den Olympischen Spielen teilnehmen.› Und heute war ich im 100-m-Final.»
Kambundji: «Ich bin extrem stolz auf uns. Es wurde nie ernst genommen, dass wir auch so schnell sein können wie die anderen.» Die Schweiz wird dank ihrer schnellen Frauen zur Sprintnation, die Medaille ist greifbar. Kambundji bekommt nächste Woche über 200 m die nächste Chance, die beste Gelegenheit aber bietet sich in der 4x100-m-Staffel. «Vielleicht können wir noch einmal ein bisschen träumen», sagt Del Ponte.
Ihre Teamkollegin wird sogar noch klarer. «Wir wollen endlich Edelmetall!», sagt Salomé Kora (27). «Da sind wir uns alle einig.» Die Schweizer Frauen sind bereit für den ganz grossen Coup. Es wäre die erste Schweizer Leichtathletik-Olympiamedaille für die Frauen, das erste Sprint-Edelmetall überhaupt bei den Spielen. Eine Sensation.
Ex-Trainer glaubt an Silber
Das Verrückte: Es ist überhaupt nicht unrealistisch. «Mein Tipp: Sie holen Silber», sagt Laurent Meuwly. Der frühere Staffel-Nationalcoach arbeitet mittlerweile als Sprinttrainer für den niederländischen Verband. «Sie haben den Speed und sie haben die Technik, weil sie eingespielt sind.» An der WM in London 2017 wurde die Schweiz Fünfte, 2019 in Doha Vierte. 8 Hundertstel fehlten damals aufs Podest. Jetzt soll der nächste Schritt kommen – auch, weil die Sprint-Raketen kompromisslos ihren Weg gehen.
Alles fängt mit Mujinga Kambundji an. Die Bernerin, bis am Freitag die schnellste Schweizerin über 100 m, ist die grosse Figur in der Schweizer Leichtathletik. «Mujinga hat uns gezeigt, wie man Medaillen gewinnt», sagt Del Ponte. Wie stark Kambundji längst über die Tartanbahn hinaus strahlt, zeigt sich daran, dass sie bei der Eröffnungsfeier Fahnenträgerin für die Schweizer Delegation war. «Eine Riesenehre», sagt sie. Aber auch sportlich kann sie Tokio noch ein Sahnehäubchen aufsetzen. «Mujinga ist in der Form ihres Lebens», sagt ihr Trainer Adrian Rothenbühler.
Kora vermisst in Serbien den Schweizer Käse
Das kommt nicht von ungefähr. Die Sprint-Pionierin brach 2013 aus der Komfortzone aus, ging nach Mannheim, um unter Trainer Valerj Bauer zu arbeiten. Seither hat sie bei Coaches in den Niederlanden und in Grossbritannien trainiert, 2019 holte sie in Doha WM-Bronze über 200 m.
Die Kolleginnen haben aufgepasst. Ajla Del Ponte zum Beispiel, seit Freitag Schweizer Rekordhalterin über 100 m. «Auf ihren Spuren zu wandeln, ist inspirierend», sagt die Tessinerin. In Kambundjis Fussstapfen ist die Hallen-Europameisterin über 60 m auch mit dem Willen unterwegs, ins Ausland zu gehen. Die Tochter eines Tessiners und einer Bosnierin trainiert seit zwei Jahren bei Meuwly in den Niederlanden.
Salomé Kora feilt seit einem Jahr in Serbien an der Form. Goran Obradovic heisst der Coach, der sie in Novi Sad noch einmal auf ein neues Level gehoben hat. «Ich habe sehr bewusst nach dem perfekten Setting für mich gesucht. Hier wird sehr zielgerichtet trainiert», sagt die Oberstufenlehrerin, die seit letztem Winter ihr Masterdiplom in der Tasche hat. «Nur eines fehlt in Serbien manchmal: ein guter Schweizer Käse, ein Appenzeller oder Greyerzer.» Die gute Nachricht aus Käse-Liebhaberinnen-Sicht: Während der Saison im Sommer hat sie ihre Basis wieder daheim in der Ostschweiz. Mit ihren 11,12 Sekunden schaffte Kora die 100-m-Olympia-Qualifikation direkt, am Freitag verpasste sie mit ihrer Zeit nur wegen des Modus den Halbfinal.
Wer erhält den vierten Startplatz?
Während mit Del Ponte, Kambundji und Kora drei Sprinterinnen gesetzt scheinen, ist der letzte Posten noch nicht endgültig vergeben. Sarah Atcho (26) war in den letzten Jahren die vierte Frau im Bunde. Doch die Westschweizerin hat schwierige 18 Monate hinter sich. «Um meine mentale Gesundheit steht es nicht gut», sagt sie offen. «Es ist wirklich schwer im Moment.» Auch sie wollte es sportlich wissen, ging vor einem Jahr nach Belgien in die Trainingsgruppe von Jacques Borlée. Auf Touren kam sie noch nicht. Zwei Meniskus-Operationen, die Corona-Zeit und ein Riss der Oberschenkelsehne machten ihr zu schaffen. «Ich hoffe, ich kann bei Olympia etwas beitragen», sagt sie.
Die Alternative zu Atcho heisst Riccarda Dietsche (25). Die Ostschweizerin hat diesen Sommer mit 11,42 Sekunden ihre persönliche Bestzeit aufgestellt. «Riccarda hat ihre Form im Einzel und in der Staffel in dieser Saison schon unter Beweis gestellt», sagt Kora. «Sie ist routiniert, sehr sicher, gerät bei den Wechseln nie in Panik. Auch sie wäre eine Bank.»
Medaille am Freitag?
Am Samstagabend schrien Kora, Atcho und Dietsche zusammen mit Kambundjis Schwester Ditaji und der zweiten Staffel-Ersatzläuferin Cynthia Reinle auf der Tribüne des Tokioter Olympiastadions ihre beiden Teamkolleginnen in den Final. Am Donnerstag im Vorlauf und am Freitag im Final können sie ihnen helfen, den Traum von der Medaille wahr zu machen.
Die 32. Olympischen Sommerspiele finden vom 23. Juli bis 8. August 2021 in der japanischen Hauptstadt Tokio statt. Alle Infos zur Eröffnung, Übertragung, Wettkampfterminen, Disziplinen, Neuerungen, Austragungsstätten und Maskottchen erfahren Sie in der grossen Übersicht.
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