Es ist friedlich an diesem warmen Mai-Samstag, doch in der Innenstadt von Glasgow herrscht Hektik. Grössere als üblich. Und das hat mit Fussball zu tun. Dennoch bleibt die Stimmung ruhig. Keine Betrunkenen. Keine Randale. Keine Fan-Konfrontationen. So ist das heutzutage, wenn Derby ist. Und an diesem Samstag ist Derby. Und es ist ein Spezielles. Es ist jenes, an dem Celtic mit einem Sieg gegen die Rangers nach menschlichem Ermessen uneinholbar sein und damit erneut Champion werden wird.
Sogar das offizielle Celtic-Pub ist noch geschlossen
Doch vieles ist nicht mehr wie früher. Da ist die frühe Kickoff-Zeit, die diese Hektik verursacht. Denn fürs Old Firm reisen Fans aus halb Europa an – Deutsche (Fans von St. Pauli), Holländer, Italiener und ganz viele Iren treffen wir an. Und natürlich aus ganz Schottland. Auch wenn man Fan und vielleicht sogar Mitglied des FC St. Mirren oder der Hibernians aus Edinburgh ist – jeder ist auch Celtic oder Rangers. Unausweichlich!
Morgens um zehn. Das halboffizielle Celtic-Pub The Brazen Head, das etwas ausserhalb des Zentrums direkt am Clyde River liegt, guckt verschlafen aus der Wäsche. Drinnen wird aufgeräumt. Geöffnet wird erst um 11 Uhr. Zu spät für ein Spiel, das um halb zwei angepfiffen wird. Motto des Pubs: «You’ll never drink alone.»
Viele weitere Pubs sind noch geschlossen. Das Bild ändert sich gegen 12 Uhr schlagartig. Da bilden sich dann plötzlich überall Schlangen, denn die Fans wollen sich die besten Plätze vor den Bildschirmen sichern.
Auswärtsfans unerwünscht
Szenenwechsel zum Celtic Park. Vor dem Stadion finden sich nur wenige offensichtlich Betrunkene. Henrik Larsson (52), die Klublegende, kommt. Die Fans jubeln dem Schweden zu wie einem Popstar. Aber weshalb ist es so ruhig und gesittet, fast schon gespenstisch? Nun, ganz einfach: Es gibt eine reine Celtic-Party! Auswärtsfans haben keinen Einlass.
Das war in den letzten Jahren seit der Wiederauferstehung der Rangers nach dem Konkurs der Betreiberfirma im Jahr 2012 und der Zwangsrelegation in die vierte Liga immer wieder der Fall. Seit 2017 sind die Gers, wie sie genannt werden, wieder erstklassig. Der Grund für den Fanausschluss: Man kürzte die Zuteilungen für Auswärtsfans beidseits immer weiter, bis die Klubs entschieden, aus Sicherheitsgründen keinem ihrer eigenen Fans ein Spiel im Stadion des Hassgegners zuzumuten. Nächste Saison will man es wieder probieren mit einem Fünf-Prozent-Kontingent für Away-Fans.
«Thay hate us – we hate them!»
Apropos Hass: Das ist durchaus der Grundgemütszustand eines Supporters gegenüber dem anderen Klub. Oft wird dessen Name nicht mal in den Mund genommen. Celtic-Fan Neil Hawkins sagt kurz und knackig: «Die hassen uns. Und wir hassen sie. Das ist das Derby.»
Explizit spricht er vom Derby, und nicht vom weltberühmten Namen Old Firm für das neben dem argentinischen Superclásico zwischen Boca Juniors und River Plate in Buenos Aires wohl bekanntesten Stadtrivalenspiel der Welt. Der Name Old Firm soll zurückgehen auf das allererste Derby, ein Freundschaftsspiel im Jahr 1988, als ein Reporter von einem Match zwischen «old, firm friends» sprach, also von alten, engen Freunden. Es soll also nicht von «Firma» kommen. Doch auch dafür finden sich Versionen.
Es war Derby Nummer 440!
Mittlerweile sind 441 Derbys in Wettbewerbsspielen gespielt. Beide Teams haben je 169 gewonnen. Seit dem Konkurs der Rangers weigern sich die Celtic-Fans den Begriff Old Firm weiterhin in den Mund zu nehmen. «Das sind nicht mehr die Rangers von damals, sondern ein neuer Klub», erklärt Liam O’Keefe in Grün-Weiss. «Deshalb ist es nun das Glasgow Derby. Basta.» Da gibts andere Meinungen. Jonathan Sutherland (47) von BBC Scotland: «Das sehen nur die Celtic-Fans so. Für uns ist das nach wie vor das Old Firm Derby.»
Doch was macht nebst dem stattlichen Alter diese Rivalität sonst so speziell? «Da ist Geschichte drin, Politik, Religion. Es ist der Clash zwischen dem Establishment der Protestanten und Unionisten auf der einen und den Kelten, also Katholiken und kleinen Leute, auf der anderen», erzählt Callum McCauly. «Zwei Stämme, die Krieg führen. Ja, Krieg, auf dem Fussballfeld. Das ist besser als im realen Leben.»
Die Konkurrenz kann ökonomisch nicht mithalten
Und eigentlich sind es die Derbys, die darüber bestimmen, wer schottischer Meister wird. «Die Konkurrenz kann vor allem ökonomisch nicht mithalten. Deshalb spielt sich alles zwischen den beiden grossen Glasgower Klubs ab», führt Sutherland weiter aus. Zwei Fakten noch: Beide Klubs haben mehr Anhänger als alle anderen schottischen Klubs zusammen. Und sogar in den nächstgrösseren Städten Edinburgh und Dundee finden sich viele Fans der Glasgower Klubs.
Die Tribüne wankt ...
Mittlerweile läuft das Spiel. Die Stimmung ist der nackte Wahnsinn! Es ist gnadenlos laut. Auch beim obligaten «You’ll never walk alone». Und als O’Riley das 1:0 bucht, muss man befürchten, dass die Tribüne zusammenbricht. Es ist eine Explosion. Eine Eruption. Die Tribüne wankt! Zwei Minuten später wiederholt sich das Prozedere beim 2:0. Und als Rangers-Verteidiger Lundstram nach VAR-Intervention Rot sieht, ein drittes Mal. Jeder Celtic-Corner wird frenetisch bejubelt, für jeden ausgewechselten Spieler gibts Standing Ovations.
Schlusspfiff. Es ist wieder ohrenbetäubend laut. Die Spieler drehen eine Ehrenrunde. Zehn Minuten später ist der Spuk vorbei. Das Stadion quasi leer. Denn nach diesem Derby des Wahnsinns gibt es nur noch eins: Schnellstens ab in die Pubs – und Glasgow leer trinken!