Welch wilde Zeiten damals! Als die Stones 1967 erstmals im Zürcher Hallenstadion auftraten und sich nach 35 Minuten wieder verabschiedeten, weil es so im Vertrag festgehalten war, drehten viele Fans durch, schmissen Klappstühle, zerstörten Teile der Bühne. Die Polizei griff drinnen mit Knüppeln und draussen mit Wasserwerfern massiv ein. Die Tumulte waren der Startschuss zu den 68er-Jugendunruhen in der Schweiz.
Ganz so höllisch ging es am 27. April 1974 nicht zu. Und trotzdem war der Boxkampf zwischen Fritz Chervet und dem Thailänder Chartchai Chionoi für Schweizer Verhältnisse ein emotional vergleichbares Spektakel. 50 Jahre ist es her, seit der Fliegengewichtler aus Bern zum Rückkampf um den WM-Titel antrat, nachdem er den ersten Kampf in Thailand ein Jahr zuvor durch technischen K.o. verloren hatte. Fritzli Chervet, der 1972 Europameister wurde, griff in Zürich also zum zweiten Mal nach dem begehrten WM-Gürtel der WBA.
Nach dem Urteil schlug die Stimmung um
Beide Boxer legten ein enormes Tempo auf den Ringboden des ausverkauften Hallenstadions. Chervet tänzelte um Chionoi herum, die Fäuste hoch vor dem Gesicht. Die Schweizer Fans waren frenetisch, laut, völlig aus dem Häuschen. Doch nach 15 hart umkämpften Runden und dem ausgerufenen Punktsieg für Chionoi schlug die Stimmung um. Wieder gab es Tumulte, wieder flogen Stühle, Kissen, Fäuste und Bierflaschen durchs Rund des Hallenstadions, ähnlich wie sieben Jahre zuvor bei den Stones. Der Weltmeister aus Thailand wurde am Hinterkopf getroffen. «Es war eine Flasche», behauptete sein Manager. Chionoi musste danach gestützt werden und fand erst in der Garderobe Sicherheit. Das war purer Rock 'n' Roll im Boxsport.
Mehr Storys über Boxen
Unter den Zuschauern damals auch drei junge Schweizer Boxer. Jack Schmidli, heute Präsident der Technischen Kommission bei Swiss Boxing, erinnert sich: «Wir hofften doch alle, dass Fritzli gewinnt und Weltmeister wird. Und für uns hat das damals auch so ausgesehen, und darum konnten wir das Verdikt nicht fassen. Heute würde ich sagen, dass das kein klares Fehlurteil gewesen war. In unserer Euphorie damals sah das ganz anders aus.»
«Es waren grossartige Zeiten»
Andreas Anderegg, bis 2023 siebzehn Jahre lang Präsident von Swiss Boxing, stand 1974 noch am Anfang seiner Karriere. «Jeder kannte Fritzli. Er hat uns alle beeindruckt und motiviert. Mein Vater hat mich zum Kampf mitgenommen. Die Stimmung war grossartig. Am Ende flogen Stühle und wir machten uns schnell aus dem Staub. Es waren grossartige Zeiten.» Schon 1971, als Muhammad Ali gegen den deutschen Jürgen Blin im Hallenstadion kämpfte und siegte, war Andereggs Vater live dabei. «Er sass ganz vorne am Ring. Und Ali sah ihm direkt in die Augen und flachste. Diese Geschichte hat er danach noch lange erzählt, und sie fasziniert mich immer noch.»
André Schenk, der später Nationaltrainer der Schweizer Amateurboxer wurde, sass beim Chervet-Fight 1974 auch nahe am Ring. «Ich habe die Stimmung eingesogen, am Ende wurde es hektisch.» Schenk erzählt eine Anekdote über Sepp Sutter. Beim Ali-Blin-Kampf war Sutter Ringrichter, beim Chervet-Kampf drei Jahre danach einer der Punktrichter. Sutter wertete den Kampf 74-69 für den Schweizer, wurde aber überstimmt. «Sepp war Polizist und früher Schweizer Meister im Schwergewicht», erzählt Schenk. «Eine ziemliche Erscheinung. Später, bereits im Rentenalter, war er zufällig Zeuge bei einem Banküberfall und schlug den Bankräuber k.o.»
Punktrichter schlug Bankräuber k.o.
Unmittelbar nach der Urteilsverkündung im Chervet-Kampf musste Sutter schauen, dass er nicht selber k.o geht. «Die Punktrichter mussten sich unter dem Ring verstecken», sagt Alain Chervet, Neffe von Fritzli Chervet. Der ehemalige Profi ist heute Leiter der Boxschule Boxing Kings im Berner Liebefeld. «Mein Vater und mein Onkel haben viel über diesen Kampf gesprochen. Ich habe ihn mir später auf Video angeschaut.» So konnte er das ganze Spektakel quasi im Nachhinein miterleben, und es hat ihn begeistert. «Für mich hat Fritz damals gewonnen, aber das sage ich jetzt als Neffe.»
Ganz nah dran war Walter Chervet, Vater von Alain. Zu seinen Aktivzeiten war er Schweizer Meister bei den Amateuren – ebenfalls im Fliegengewicht wie sein Bruder Fritz. «Beim Kampf sassen mein jüngerer Bruder Werner und ich nebeneinander», erinnert sich der heute 78-Jährige. Als der Kampf fertig war, haben wir uns freudig gratuliert. Wir waren sicher, dass Fritz klar gewonnen hat. Wir haben ihm sieben, Chionoi maximal zwei Runden gegeben. Umso grösser war der Schock und die Enttäuschung nach dem Urteil.»
Walter Chervet sah klaren Sieg seines Bruders
Sie hätten auf der Heimfahrt von Zürich nach Bern viel über die Gründe spekuliert, warum das Urteil so ausfiel. Ob der Ringrichter aus Hawaii vielleicht dem Thailänder näherstand? Oder ob die Anwesenheit eines Mitglieds der thailändischen Königsfamilie im Hallenstadion den Ausschlag gegeben habe? Oder ob es schlicht der Bonus war, den der Weltmeisters in so einem Kampf normalerweise hat? «Auch Fritz war nach dem Schlussgong überzeugt, dass er der Bessere war und gleich zum Weltmeister ausgerufen würde», sagt Walter Chervet.
Es kam anders. Fritzli Chervet bekam keine dritte WM-Chance mehr. Mit 34 Jahren trat er 1977 vom Boxsport zurück, wurde später Hilfsweibel im Bundeshaus und mied rigoros jede öffentliche Bühne, auf der er sich, ausser im Ring, zeitlebens nie wohlgefühlt hat. Im Jahr 2020 hörte sein Herz zu schlagen auf, nachdem er sein letztes Lebensjahr in einem Pflegeheim verbracht hatte. Fritzli wurde 77-jährig.
Und sein damaliger Gegner Chionoi? Nach 82 Profikämpfen verstarb der Thailänder 2018. Er litt viele Jahre an Parkinson, am Ende streckte ihn eine Lungenentzündung nieder. Und da wäre noch der Ringrichter aus Honolulu. Walter Cho starb 1985. In Erinnerungen bleiben wird der Hawaiianer den Schweizer Boxfans mit seiner Analyse, die er unmittelbar nach der Urteilsverkündung in die Mikrofone sprach: «Chervet hätte mehr tun müssen, um Weltmeister zu werden. Seine zehnte Runde war wirklich grossartig. Er ist ein Good Boy, aber kein Weltmeister.»