Auf einen Blick
- Tua Tagovailoa steht am Scheideweg seiner Karriere
- Er erlitt seine vierte Gehirnerschütterung
- Studien zu Hirnverletzungen sind erschreckend
Die NFL-Saison ist erst drei Wochen alt, doch sie hat bereits ihre erste tragische Figur. Mit nur 26 Jahren steht der Quarterback Tua Tagovailoa von den Miami Dolphins am Scheideweg seiner Karriere. Zuletzt häuften sich gar die Stimmen, die Tagovailoa rieten, besser nie mehr als Profi in einem Footballspiel aufzulaufen.
Am letzten Wochenende, bei Miamis Gastspiel in Seattle, stand Tagovailoa nur am Spielfeldrand. Mit Sonnenbrille und tief ins Gesicht gezogener Kapuze musste er mitansehen, wie die Dolphins ohne ihren Spielmacher sang- und klanglos untergingen (3:24).
Kein schöner Anblick. Doch es war nichts im Vergleich zu den Szenen, die sich eine Woche zuvor in Miami abgespielt hatten.
Das Duell gegen die Buffalo Bills beim Primetime-Spiel an jenem Donnerstagabend war eigentlich bereits entschieden, als sich Tua Tagovailoa nochmals zu einem Lauf mit dem Ball unter dem Arm hinreissen liess. Kurz vor der Endzone knallte er kopfvoran in einen Verteidiger, ging zu Boden und blieb benommen liegen. Ein Arm vom Körper abgespreizt, die Finger an den Händen unkontrolliert gekrümmt. Im Stadion wurde es sofort bedrückend still. Denn es war nicht das erste Mal, dass die Fans ihren Quarterback so sehen mussten.
Bei der NFL schrillen die Alarmglocken
Schon kurz nach dem Spiel wird bestätigt, was schon auf dem Rasen jeder sehen konnte: Tagovailoa zog sich beim (fairen) Tackling eine Gehirnerschütterung zu. Es ist bereits die dritte in der NFL-Karriere des jungen Spielers. Hinzu kommt eine weitere Gehirnerschütterung aus der Zeit als College-Spieler.
Bei einer solchen Krankenakte läuten in der NFL alle Alarmglocken. Denn noch bis vor wenigen Jahren war der Liga immer wieder vorgeworfen worden, viel zu wenig gegen Kopfverletzungen im Football zu unternehmen. Gehirnerschütterungen waren lange als Kollateralschäden hingenommen worden. Teil des harten Spiels, so die lapidare Erklärung. Mittlerweile ist im American Football aber ein Wandel im Gang.
Heute ist in der NFL ein strenger Massnahmen-Katalog etabliert, der nur schon bei Verdacht auf eine Kopfverletzung zum Zug kommt. Weist ein Spieler nach einem Zusammenstoss Symptome einer Gehirnerschütterung auf, muss er automatisch aus dem Spiel genommen werden.
Neu sind seit dieser Saison in der Liga auch die sogenannten «Guardian Caps» zugelassen – speziell gepolsterte Helm-Überzüge, die den Kopf zusätzlich schützen sollen. In den Trainings setzen tatsächlich schon viele Profis auf die neue Ausrüstung. In den Ernstkämpfen allerdings hatten die Überzieher bisher Seltenheitswert.
Die Footballer-Krankheit CTE
Vor allem die Forschung im Zusammenhang mit der irreparablen Gehirnerkrankung CTE (Chronisch Traumatische Enzephalopathie) hat die vielen Kopfverletzungen in der beliebtesten US-Sportart in der jüngeren Vergangenheit in ein anderes Licht gerückt. Hervorgerufen wird die Krankheit vor allem durch wiederholte Schläge gegen den Kopf. Die Folge: Konzentrationsstörungen, gesteigerte Aggressionen, Depressionen, Demenz und gar Suizidalität. 2017 veröffentlichte die angesehene Neuropathologin Ann McKee die Ergebnisse einer Untersuchung an Gehirnen von 111 verstorbenen Ex-NFL-Profis. Bei 110 Proben konnte CTE nachgewiesen werden.
Es gibt NFL-Spieler, die aus Angst vor den Langzeitfolgen des Sports ihre Karriere frühzeitig beendeten. Eins der bekanntesten Beispiele ist Luke Kuechly (33). Der ehemalige Linebacker der Carolina Panthers zog mit nur 28 Jahren einen Schlussstrich. Wie Tagovailoa hatte auch Kuechly drei Gehirnerschütterungen innert kürzester Zeit erlitten.
«Tagovailoa befindet sich in einer richtig schwierigen Situation»
Chris Nowinski, US-Experte für Kopfverletzungen im Sport, schrieb unmittelbar nach dem jüngsten Vorfall um Tagovailoa auf X: «Eine fixe Zahl an Gehirnerschütterungen, die einen Rücktritt nötig machen würden, gibt es nicht. Es hängt alles davon ab, wie er sich davon erholt. Aber er befindet sich jetzt in einer richtig schwierigen Situation.»
Was Nowinski damit meint: Als Profi befindet sich Tagovailoa eigentlich in seinen besten Jahren. Erst im Sommer hatte er in Miami eine Vertragsverlängerung unterzeichnet, die ihm in den nächsten vier Jahren über 212 Millionen Dollar einbringen würde. Der gebürtige Hawaiianer lebt den Football-Traum – und müsste ihn nun für seine Gesundheit opfern.
Gerüchten zufolge tendiert Tagovailoa offenbar zum Weitermachen, eine offizielle Stellungnahme gibt es allerdings nicht. Bedenkzeit hat der Quarterback: Mindestens vier Spiele wird er auf jeden Fall aussetzen müssen, weil sein Team ihn auf die sogenannte «Injured Reserve List» gesetzt hat. Eine übliche Massnahme bei Spielern, die sich schwerere Verletzungen zugezogen haben. Aber irgendwann muss sich Tagovailoa entscheiden: Gesundheit oder Zahltag.