Gut drei Monate sind seit dem schlimmen Unfall vergangen. Sandro Michel (27) hievt sich ächzend auf sein Spitalbett in der Rehaklinik Bellikon im Kanton Aargau. Die Schuhbändel der Turnschuhe aufzubekommen – ein Kraftakt. Das Leben des Schweizer Bobanschiebers hat sich vom einen auf den anderen Tag verändert.
Dieser Artikel wurde erstmals in der der «Schweizer Illustrierten» publiziert. Weitere spannende Artikel findest du auf www.schweizer-illustrierte.ch.
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Momentan sitzt er im Rollstuhl, seit kurzer Zeit kann er kürzere Strecken auch an Krücken gehen. Die Liste seiner Verletzungen ist horrend: gebrochene Rippen, eine Lungenblutung, abgerissene Muskeln im Brustkorbbereich. An den Hüften des Spitzensportlers wurden diverse Haut- und Muskelfetzen ab- und aufgerissen, die Hüfte war ausgekugelt, der Oberschenkelknochen sichtbar. Vier Operationen übersteht Michel, während dieser Zeit schwebt er in Lebensgefahr. Doch es hätte nicht so weit kommen müssen.
Der Unfall
Am 13. Februar trainiert Sandro Michel mit seinem Team in Altenberg. Im Eiskanal dreht sich der Schlitten, Michel rutscht raus, schlittert die Bahn runter und bleibt im Ziel liegen. Dann passiert die eigentliche Tragödie: Der Viererschlitten rutscht zurück und erfasst Michel. Ein 500 Kilogramm schwerer Bob. Michel hat keine Chance, auszuweichen – liegt er doch bewusstlos auf der Bahn.
Vom Unfall weiss Michel nichts mehr. Seine erste Erinnerung setzt auf der Intensivstation in Dresden ein. Heute ist sein Körper gezeichnet von grossen Narben an Oberschenkel, Gesäss, Hüfte und Schulter. Fotografieren lassen möchte er die Narben nicht. «Ich habe teilweise selbst noch Mühe, mich im Spiegel anzuschauen, da ich extrem viel Muskelmasse verloren habe.»
Fehlende Sicherheit in Altenberg
Seit dem Unfall hat Michel über 15 Kilogramm an Gewicht verloren. Sein Wille ist aber noch da. Denn Michel möchte zurück in den Bobsport. Ob das je möglich sein wird, steht in den Sternen. «Diese Ungewissheit macht mir sehr zu schaffen.» Beim Sturz hat sich der Pilot Michael Vogt ebenfalls verletzt, er hat sich eine schwere Gehirnerschütterung zugezogen. Ihm macht Michel keinen Vorwurf. «Stürze sind normal in unserem Sport. Aber dass Altenberg keine Sicherheitsvorkehrung hatte, die einen solchen Unfall hätte verhindern können, dafür habe ich kein Verständnis.»
Was Michel besonders deprimiert, ist die Tatsache, dass am selben Tag einem deutschen Team fast das Gleiche passiert ist. Es konnte aber mit viel Glück das Zurückrutschen des Bobs verhindern und so den Anschieber, der ebenfalls bewusstlos in der Bahn lag, retten. «Ich kann es einfach nicht nachvollziehen, dass man spätestens nach diesem Zwischenfall nicht reagiert hat. Die haben einen Toten in Kauf genommen», sagt Michel frustriert. Auch dass er seit dem Unfall kein Wort vom Weltverband IBSF gehört hat, enttäuscht ihn. Keine Entschuldigung, keine Gute-Besserungs-Karte. Keine Frage nach seinem Zustand.
Schritt für Schritt kämpft sich Sandro Michel in ein normales Leben zurück. Sein Tag ist durchgetaktet: Physiotherapie, Sportmedizin, Fitness. Früher konnte er ohne Probleme 100 Kilogramm an der Bank drücken, zurzeit sind es erst wieder 40 Kilogramm. Und nach zehn Wiederholungen ist bei ihm bereits die Luft raus. Eine harte Tatsache für den Spitzensportler. Und doch: Michel hat einen Schutzengel gehabt, dessen ist er sich bewusst. «Ich bin froh, dass ich überhaupt eine Chance auf eine Genesung habe. Ich hätte an diesem Tag mein Bein oder gar mein Leben verlieren können.»
Traum von Olympia
An den Anruf mit der schwerwiegenden Nachricht kann sich Michels Freundin Sina Halter (27) noch genau erinnern. «Es hat mir den Boden unter den Füssen weggerissen. Ich habe drei Tage durchgeweint.» Halter fährt mit Michels Eltern nach Dresden, wo der Bobanschieber damals auf der Intensivstation liegt. Die Familie weiss nicht, wie schlimm es ist. Ob Michel sie überhaupt erkennt? «Wir waren einfach dankbar, dass seinem Kopf nichts passiert ist. Er konnte reden und witzelte – unbezahlbar in dieser Situation.»
Angst um ihren Sandro hat Halter nicht, falls er je wieder Bobfahren würde. Nur in Altenberg soll er nicht mehr in den Eiskanal – dabei würde sie sich unwohl fühlen. Michel stimmt seiner Freundin zu und klopft ihr sanft auf die Schulter: «In Altenberg werde ich nicht mehr in einen Schlitten steigen, sofern sich die Sicherheitsmassnahmen nicht deutlich verbessern!»
Aber zurück in den Bob will er unbedingt. Denn Michel träumt von seinem Comeback. Und von seiner vollständigen Genesung. Und in ferner Zukunft vielleicht irgendwann mal noch von einer Olympiamedaille.