Diese ehemaligen Heroinsüchtigen haben Zürichs Drogenhölle erlebt
Sie waren Kinder vom Letten

Zürichs offene Drogenszene am Platzspitz und am Letten war ein elender Sumpf. Trotzdem oder gerade deswegen zog sie so viele Menschen an. Nina, Stefan, Heiner und Claudio nehmen uns mit in ein Zürich, das viele nicht überlebten.
Publiziert: 14.02.2025 um 07:29 Uhr
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Aktualisiert: 14.02.2025 um 11:07 Uhr
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Claudio hat im Haus Harmonie, einem Wohnheim vor allem für Langzeitsüchtige, ein Daheim gefunden.
Foto: Philippe Rossier

Auf einen Blick

  • Zürichs Drogenhölle: Vier Süchtige erinnern sich an die dunkelste Zeit
  • Heroin gab Wärme- und Freiheitsgefühl, aber führte zu Verwahrlosung und Kriminalität
  • Mitte der 90er-Jahre: Über 400 Drogentote jährlich, Mehrheit unter 30 Jahre alt
Die künstliche Intelligenz von Blick lernt noch und macht vielleicht Fehler.

«Am Letten liess ich mir meinen ersten Schuss setzen. Ich kann mich noch genau an den Mann erinnern, der mir Heroin in die Vene spritzte. Es war ein bärtiger Mann, mein Anfixer», sagt Nina. Einer, der anderen Menschen die Nadel setzt. Sich selber zu spritzen, ist eine Hemmschwelle. Doch die ist schnell überwunden. Da sind sich Nina und die drei Männer, die neben ihr am Tisch sitzen, einig. Nina ist 51 Jahre alt und war jahrelang auf Heroin. Gemeinsam mit Stefan, Heiner und Claudio erinnert sie sich an die dunkelste Zeit in ihrem Leben. Ihre Sucht. 

Nina, 51, war jahrelang auf Heroin. Ihren ersten Schuss liess sie sich am Letten in Zürich setzen.
Foto: Philippe Rossier

Alle vier verkehren in Zürichs Drogenhölle. Ab 1986 richten sich immer mehr Süchtige auf dem Platzspitz ein, dem «Needle Park». Mitte der 90er-Jahre ist die Heroin-Epidemie auf dem Höhepunkt. Jährlich über 400 Drogentote. Der Grossteil unter 30. Am 5. Februar 1992 scheitert die Schliessung des Platzspitzes, die Süchtigen ziehen weiter. An den Letten. Dort wird alles noch viel schlimmer. Doch am 14. Februar 1995 riegelt die Polizei den stillgelegten Bahnhof mit Stacheldraht ab. Dieses Mal gelingt die Räumung. Heute vor 30 Jahren wird die offene Drogenszene aufgelöst. 

Drogenszene am Platzspitz 1990: Um den Pavillon herum drehte sich alles.
Foto: Philippe Rossier

«Ich wollte das einmal sehen», sagt Nina über den Letten. Mit 15 raucht sie das erste Mal Folie, kurz darauf fährt sie mit ihrer Jugendliebe auf dem Töff nach Zürich und lässt sich Heroin spritzen. Wer dort war, erinnert sich insbesondere an den Gestank. An die Verwahrlosung. An den Dreck. An das Elend. Der Arzt André Seidenberg, damals in den 40ern, verteilt mit anderen Ärzten saubere Spritzen auf dem Areal. Er gilt als Kämpfer der ersten Stunde für eine medizinische, kontrollierte Drogenabgabe. Wenn er zurückdenkt, sieht er die Fixer unter der Kornhausbrücke sitzen, auf den Gleisen, das Licht von der Brücke scheint auf sie hinunter. «Überall lagen Nadeln und aufgerissene Fixerutensilien, es war grusig und es war gefährlich.»

Ab 1986 richten sich immer mehr Süchtige auf dem Platzspitz ein, dem «Needle Park», Aufnahme 1989.
Foto: © Schweizerisches Sozialarchiv, Gertrud Vogler

Mitten drin Stefan aus dem Thurgau. Mit 18 kommt er das erste Mal auf den Platzspitz. Er will erleben, wie es ist, Heroin im Blut zu haben. «Ich hatte Stress mit den Eltern, war labil. Die Drogen gaben mir ein Wärmegefühl. Ich habe mich frei gefühlt. Alle Sorgen waren weg.» Die drei anderen nicken. Sie wissen genau, was der 57-Jährige meint. 

Stefan aus dem Thurgau kommt mit 18 das erste Mal auf den Platzspitz. Seit zehn Jahren lebt er im Haus Harmonie, einer Einrichtung für Langzeitsüchtige im Kanton Solothurn.
Foto: Philippe Rossier

Er stiehlt beim Vater Geld, fährt jeden Abend nach Zürich und kauft beim Rondell «Sugar» (Heroin). Stefan: «Seit dem ersten Tag am Platzspitz war ich an der Nadel.» Als die Polizei die Süchtigen vom Platzspitz vertreibt und das Elend ein paar Hundert Meter weiter zieht, zieht auch Stefan mit. 

Am Platzspitz werden Süchtige zu Dealern und Kriminellen, um ihren Konsum zu finanzieren. Am Letten sind vermehrt Albaner, Libanesen, Türken die Dealer. Sie schlagen aus dem Leid der Süchtigen Profit. Ein Gramm Heroin für 600 Franken. Bei Stefan zu Hause eskaliert es. Eine seiner Spritzen liegt im Suppenteller, der Vater hat sie dort platziert. Er zeigt Stefan wegen Drogenkonsum an.

Wer am Letten war, erinnert sich insbesondere an den Gestank. An die Verwahrlosung. An den Dreck. An das Elend.
Foto: Keystone

Stefan zieht nach Zürich, näher an die Drogen. Um seine Sucht zu finanzieren, begeht er etliche Diebstähle. Er wird mit 1,4 Kilo Kokain erwischt und sitzt vier Jahre in Regensdorf. Sein Mitbewohner in Zürich, auch Fixer, schiesst sich in den Kopf, seine vier Jahre jüngere Schwester ist längst auch heroinabhängig. Stefan fühlt sich schuldig. Aber am Letten schaut jeder nur auf sich. 

«Der Letten war wie ein Super-Discounter, nirgends kam man so einfach an Drogen wie dort», erzählt Heiner (53). Er verkehrt in Luzerns Drogengasse, der Eisengasse, mitten in der Altstadt. Aber in Zürich seien die Bedingungen einfach besser gewesen. Bessere Qualität, mehr Stoff fürs Geld. 

Auch Heiner war jahrelang heroinsüchtig, über sich sagt er: «Ich war ein Letten-Kind.»
Foto: Philippe Rossier

«Ich bin erschrocken, als ich nach Zürich kam. So viele Leute, so viele Drogen. So viel Elend», sagt Heiner, der mit 17 das erste Mal in die Stadt kommt. Jeden Tag fährt er nach Zürich, holt sich seinen Stoff. Drei Schüsse. Eine Dosis dort, eine abends zu Hause und eine am Morgen vor der Arbeit. «Ich war ein Letten-Kind.»

Er erzählt von Schleppscheisse. Eine Hautinfektion, verursacht durchs Fixen, die durchs Nichtwaschen und durchs Kratzen schlimmer wird. Erzählt von Polizisten, die die Süchtigen einkesselten, und von Dealern, die sie von hinten mit Messern stüpften, vom Gummischrot, das ihn traf, von Drögelern, deren ganzer Körper zappelte und für die auch die Sanitäter nichts mehr tun konnten. Drogentote hätten ihn schon nachdenklich gestimmt, sagt Heiner, «aber ich musste ja meine Sucht befriedigen».

Im Haus Harmonie hilft Heiner in der Küche und lebt mittlerweile in einer Wohngemeinschaft in der Nähe.
Foto: Philippe Rossier

Nina hat die Scheidung der Eltern nicht verkraftet. Stefan suchte Anerkennung zu Hause. Vergeblich. Heiner wuchs in einer Sekte auf. In der St. Michaelsvereinigung. «Ich hatte keine Liebe und keine Perspektive», sagt er. Die Anhänger glauben an den Weltuntergang. Am Muttertag 1988 soll die Sonne finster werden. Sollte. Der nächste Sommer kommt, Heiner ist 17 und fährt in den «Needle Park». Junge Leute, die sich nach Halt sehnen, nach Wärme. Diese Wärme gibt ihnen kurzzeitig das Heroin.

Claudio (65) wächst behütet auf, hat ein gutes Verhältnis zu seinen Eltern und dennoch fährt er – unzufrieden mit dem Leben – mit 20 das erste Mal nach Zürich. Wie andere spritzt sich Claudio schon bald das Heroin in den Hals, weil anderswo keine Venen mehr zu finden sind. Er zieht mit einer Frau und ihrem dreijährigen Kind in eine Wohnung in Zürich. Die Frau stirbt an einer Überdosis. Claudio wird depressiv, fällt immer tiefer. Zum Heroin kommt Alkohol dazu. 

Claudio, viele Jahre heroin- und alkoholsüchtig, hat alle im Haus Harmonie überlebt. Der 65-Jährige will nirgends anders sein. Ein Baum wird im Garten gepflanzt, wenn ein Bewohner stirbt.
Foto: Philippe Rossier

Nina, Stefan, Heiner und Claudio versuchen von den Drogen loszukommen, machen unzählige Therapien. Heute sind alle vier substituiert, das heisst sie nehmen Methadon, Ketalgin oder retardiertes Morphin. Der Arzt Seidenberg (74) sagt: «Opioidabhängige können in der Regel nie mehr aufhören. Die Chance, dass sie dauerhaft aufhören, liegt bei weniger als fünf Prozent.» 

Der junge Arzt André Seidenberg verteilt saubere Spritzen unter den Süchtigen und setzt sich für eine kontrollierte Drogenabgabe ein. Aufnahme aus dem Jahr 1993.
Foto: Keystone

Schon früh setzt er sich für eine kontrollierte Drogenabgabe ein. Lange wehrt man sich in Zürich dagegen, vertreibt die Süchtigen, sperrt sie ein, will sie zur Abstinenz zwingen. Seidenberg: «Auch Opioidabhängige müssen normal leben können, und das können sie nur, wenn sie täglich auf sichere Weise Opioide nehmen können.» Endlich, Mitte der 90er-Jahre, ziehen alle an einem Strang. Zürich findet den Weg aus der sozialen Katastrophe. 

Der Letten 1995 nach der Schliessung. Die Drogenhölle: ein Kapitel, das Zürich lieber vergessen würde.
Foto: Cash

Erst schaut die ganze Welt nach Zürich wegen der Junkies, dann wegen der fortschrittlichen Drogenpolitik: Die weltweit erste staatlich kontrollierte Heroinabgabe an Süchtige. Die Drogenhölle: ein Kapitel, das Zürich lieber vergessen würde. Wie Nina, Stefan, Heiner und Claudio. 

«Die offene Drogenszene Zürich», Ausstellung in der Photobastei in Zürich mit Bildern von Gertrud Vogler und Videobeiträgen von Heinz Nigg, ab 20. Februar. 

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