«Ich leide mit den Leuten mit»
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Sigita nimmt Geflüchtete auf:«Ich leide mit den Leuten mit»

Zürcherin hat schon 30 Flüchtlinge aufgenommen
«Ich bin die letzte Hoffnung der Familienväter im Krieg»

Die Zürcherin Sigita Barvida hat bereits dreissig Flüchtlingen aus der Ukraine aufgenommen. Zurzeit leben acht Frauen und Kinder gemeinsam mit Barvidas Familie in Zürich-Altstetten. Trotz emotionalem Stress würde sie alles wieder machen.
Publiziert: 18.03.2022 um 19:13 Uhr
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Aktualisiert: 19.03.2022 um 11:16 Uhr
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Sigita Barvida (M.) hat Maria (l.) und Alexandra (r.) aus Odessa bei sich aufgenommen.
Foto: Philippe Rossier
Chiara Schlenz

2,7 Millionen weltweit, 8500 in der Schweiz. Das sind die aktuellen Zahlen rund um die Menschen, die wegen Putins Krieg gegen die Ukraine aus ihrem Heimatland flüchten mussten. Neun davon leben gerade bei Sigita Barvida (40) in Zürich-Altstetten. «Für mich war klar, dass ich diesen Menschen helfen musste – egal wie», sagt Barvida zu Blick. Gerade am Donnerstag nahm sie drei weitere Flüchtlinge bei sich auf. Die Not ist gross und die Schweizerin will helfen, wo sie nur kann.

Seit Beginn des Kriegs habe Barvida «sicher schon 30 Personen» bei sich aufgenommen und weitervermittelt. «Sie schlafen meistens nur ein oder zwei Nächte bei mir, dann habe ich schon eine Familie für sie gefunden». All das sei nur möglich dank ihres Netzwerks und der Hilfsbereitschaft der Schweizerinnen und Schweizer. Zudem seien die meisten Flüchtlinge, die sie bei sich temporär aufnehme, bereits bei den Behörden angemeldet.

«Ich habe so tolle Leute kennengelernt, die mich mit Essen und Kleidung unterstützen. Dafür bin ich sehr dankbar.» Wenn Barvida auf Facebook fragt, wer denn noch Geflüchtete bei sich aufnehmen könne, hat sie meist eine halbe Stunde später bereits eine Antwort und ein Zuhause für die betroffenen Personen gefunden.

Tochter musste Raketenhagel zusehen

Aktuell leben elf Personen unter demselben Dach: Barvida, ihre beiden Söhne (8 und 19 Jahre alt), Natalie (46) mit ihrer Tochter Ekaterina (25), die zusammen mit ihrem kleinen Hund aus der Stadt Sumy geflüchtet sind, Natalia (40) mit ihrer Tochter Anastasia (20) aus Charkiw, die beiden jungen Frauen Maria (23) und Alexandra (20), aus der Hafenstadt Odessa.

Am Donnerstagnachmittag kamen noch mehr an: eine krebskranke Mutter, ihre Schwester sowie zwei junge Töchter. Deren Haus wurde komplett im Bombenhagel von Putins Truppen zerstört. Lange bleiben sie nicht bei Barvida. Die Familie hat bereits eine neue Unterkunft in Bern gefunden. Schon diesen Freitag können sie dorthin.

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Natalies Flucht aus Sumy war «schrecklich traumatisierend», sagt sie zu Blick. «Meine Tochter Ekaterina musste zusehen, wie unser Haus von Raketen getroffen wurde und abgebrannt ist. Wir haben alle unsere Nachbarn in den Flammen verloren». Die 25-Jährige stehe noch immer unter Schock, ihr kleiner Zwergspitz Timi (10 Monate alt), gebe ihr aber Kraft, das durchzustehen.

«Die Leute im Bunker haben tagelang kein essen»
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Was in ihrer Heimat gerade passiere, sei eine riesige Katastrophe. Mutter und Tochter können es noch immer nicht ganz begreifen, dass Krieg herrscht.

Ob sie je wieder in die Ukraine zurückgehen werden? Richtig vorstellen kann sich Natalie das nicht, zumindest jetzt noch nicht. «Ich bin einfach froh, dass meine Tochter bei mir ist.» Auch, wenn sie in Sicherheit sind, vorbei ist ihr Leid nicht. «Auch aus der Ferne ist es einfach schrecklich, zusehen zu müssen, was dort passiert.»

Familienväter bitten Barvida verzweifelt um Hilfe

Immerhin: In der Schweiz haben sie Zuflucht gefunden. Sigita Barvida kümmert sich rührend um die Flüchtlinge. Dass gerade mehr Personen im Haus sind, als üblich, ist auf den ersten Blick zu erkennen. Überall liegen Kleider herum, ein Berg von Matratzen stapelt sich notdürftig im Schlafzimmer von Barvida.

Das Kinderzimmer ihres jüngeren Sohns wurde grosszügig Maria und Alexandra übergeben, da die beiden Frauen wohl permanent bei der Zürcher Familie wohnen bleiben werden. «Ihr Vater, der selbst im Krieg gegen Russland kämpfen muss, rief mich an und bat mich, seine Tochter und ihre Freundin bei mir aufzunehmen. Ich kann sie nicht weggeben», so Barvida.

Mit diesem Anruf aus der Ukraine hat alles angefangen – bald folgten weitere Telefonate und Facebook-Nachrichten von verzweifelten Familienvätern, die ihre Frauen und Kinder in Sicherheit bringen wollen. Ablehnen konnte Barvida, selbst Mutter, kaum: «Ich bin die letzte Hoffnung für die Männer im Krieg, wenn ich mich um ihre Frauen und Kinder kümmere.» Denn die Männer selbst dürfen das Land nicht verlassen, sie müssen gegen die russischen Truppen kämpfen. «Dass zumindest ihre Kinder, Frauen, Schwestern in Sicherheit sind, gibt ihnen einen Funken Hoffnung».

«Wenn die Menschen aus dem Zug steigen, sind sie total fertig»

Ihr Engagement für die Ukraine-Flüchtlinge prägt derzeit ihren Alltag. Dank ihrer Russisch-Kenntnisse, die sie als gebürtige Lettin in der Schule erhalten hat, ist sie auch als inoffizielle Dolmetscherin gefragt. «Mein Tag beginnt mit dem ersten Kaffee am Zürcher Hauptbahnhof, dort helfe ich den ankommenden Flüchtlingen, übersetze und zeige ihnen den Weg zum Bundesasylzentrum», erklärt Barvida.

Danach gehe sie direkt zu ihrem eigentlichen Job als stellvertretende Teamleiterin bei der Post. Danach gleich wieder zurück zum Bahnhof. «Wenn die Menschen aus dem Zug steigen, sind sie total fertig und orientierungslos. Ich muss einfach helfen.»

So kannst du den Flüchtlingen helfen

Hier kannst du dich melden: Bei Campax, einer private Bürgeraktion: www.campax.org. Bei der Basler Organisation «Gastfamilien für Flüchtlinge GGG – Stichwort Ukraine» via Telefon 075 413 99 65. Oder bei der Ukraine-Anlaufstelle des Kantons Zürich, per Mail ukraine@sa.zh.ch und via Telefon 043 259 24 41.

Unter anderen haben die Glückskette, Unicef oder das Schweizerische Rote Kreuz zu Geldspenden aufgerufen.

Hier kannst du dich melden: Bei Campax, einer private Bürgeraktion: www.campax.org. Bei der Basler Organisation «Gastfamilien für Flüchtlinge GGG – Stichwort Ukraine» via Telefon 075 413 99 65. Oder bei der Ukraine-Anlaufstelle des Kantons Zürich, per Mail ukraine@sa.zh.ch und via Telefon 043 259 24 41.

Unter anderen haben die Glückskette, Unicef oder das Schweizerische Rote Kreuz zu Geldspenden aufgerufen.

Die grosse Gruppe sei langsam zu einer Art Patchwork-Familie zusammengewachsen, unterstützen sich gegenseitig, machen den Haushalt, kochen und essen gemeinsam. «Das wird mir zum Glück durch die anderen Frauen abgenommen», so Barvida.

Dass die geflüchteten Frauen sie jetzt unterstützen, ist für Barvida eine grosse Hilfe. «Auch wenn ich wieder Menschen am Bahnhof abholen sollte, während ich bei der Arbeit bin, springen meine Frauen hier ein. Wir unterstützen einander, wo immer es geht».

«Mein Telefon klingelt pausenlos

Der Stress wäre sonst zu gross für sie. Denn Barvida ist auch schon so eingespannt. Ihr älterer Sohn, Matiss (19), ist autistisch. Er wurde letztes Jahr an Zürcher Tramhaltestelle am Lindenplatz von sechs Jugendlichen angegriffen und verletzt. Blick berichtete damals über die Attacke.

Barvida scheint von sich selbst und ihrem Durchhaltevermögen überrascht. «Ich habe nicht gedacht, dass ich so viele Menschen aufnehmen werde. Aber jetzt kann ich nicht aufhören – ich sehe ja, wie es diesen Menschen geht.»

Langsam zehrt die Situation allerdings doch an ihren Kräften. «Mein Telefon klingelt pausenlos. Ich versuche loszulassen, aber kann einfach nicht.» Bereuen tut sie allerdings nichts. «Ich würde es alles wieder machen. Ich kann die Menschen nicht gross finanziell unterstützen. Aber durch die Sprache und einen temporären Schlafplatz kann ich zumindest ein bisschen was machen.»

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