Die Sonne scheint, der Himmel ist blau, und im Dorfzentrum herrscht reges Treiben: In Giswil OW scheint die Welt auf den ersten Blick in Ordnung. Doch der Schein trügt: Sobald das Stichwort «Altersheim» fällt, verzieht so manch einer das Gesicht.
Innert dreier Wochen sind im Alters- und Pflegeheim «dr Heimä» neun Menschen im Zusammenhang mit dem Coronavirus verstorben. Am Mittwoch die skandalöse Neuigkeit: Das Pflegepersonal trug keine Masken! Stiftungsratspräsident Albert Sigrist sowie der Geschäftsführer Daniel Kiefer erklärten den Medien, dass man keine Fehler gemacht habe − es sei schliesslich nur eine Empfehlung, eine Maske zu tragen. Einen Zusammenhang mit den Todesfällen sehe man darum nicht.
«Mein Grosi wollte sowieso sterben»
Ein gefundenes Fressen für die Freiheitstrychler: Am Mittwochabend hielten sie eine Trauerfeier ab. Ihre Botschaft: Der Tod gehört nun einmal zum Leben – ob Masken oder nicht, Pandemie hin oder her.
Tatsächlich teilen sogar einzelne Angehörige von Verstorbenen diese Meinung. Das zeigt eine Blick-Umfrage in Giswil am Donnerstag. «Mein Grosi ist eine der Toten», sagt ein junger Mann, während er aus seinem Auto aussteigt. «Ich mache dem Heim aber keinen Vorwurf, mein Grosi wollte sowieso sterben», meint er weiter. Ein Interview geben will er nicht. «Ich habe sicher seit zehn Jahren keine Zeitung mehr gelesen. Darin ist doch sowieso das meiste erfunden», sagt er. Seine Maske in die Höhe haltend fügt er an: «Und ich mag dieses Ding ja auch nicht anziehen.»
Nirgends sind die Menschen gegenüber der Covid-Impfung skeptischer als im Kanton Obwalden. Vier von zehn Obwaldnerinnen und Obwaldner lehnen den Impfstoff ab. Das zeigt eine exklusive Auswertung des Forschungsinstituts Sotomo, die der «Tages-Anzeiger» veröffentlicht hat. Auch beim Besuch von Blick im 3500-Seelen-Dorf ist diese Haltung deutlich spürbar. «Ich verstehe nicht, warum man jetzt auf dem Altersheim rumhackt», sagt eine ältere Dame, die gerade ihre Einkäufe ins Auto lädt.
«Das Pflegepersonal hat sicher immer sein Bestes gegeben»
Lüftungs-, Klima- und Kälteingenieur Pius Frey (63), der in Lungern OW arbeitet, bläst ins gleiche Horn: «In einem Altersheim leben einfach Menschen, die dann sterben.» Er mutmasst, dass die Menschen eher vereinsamen, weil sie keinen Besuch mehr empfangen dürfen: «Die gehen ein wie eine Blume. Wenn man diese Todesfälle jetzt den fehlenden Masken zuschreibt, dann ist das aus meiner Sicht Angstmacherei. Das Pflegepersonal hat sicher immer sein Bestes gegeben.» Hannes Luterbacher (60), Sozialpädagoge aus Alpnach OW, geht damit einig. Er sagt: «Für mich ist das kein Skandal, das kann passieren. Die haben sicher nach bestem Wissen und Gewissen gehandelt.»
Anders sieht das Josef Enz (67). Der Rentner aus Giswil kannte einige von den Toten persönlich und sagt: «Das ist tragisch für die Angehörigen.» Falls es tatsächlich eine Weisung gegeben habe, die Maske nicht zu tragen, fände er das fahrlässig: «Das Pflegepersonal geht ja von einer Person zur nächsten und da gibt es halt das Risiko einer Übertragung. Da sollte man sicher eine Maske tragen. Was man verhindern kann, sollte man verhindern.» Aus den Todesfällen müssten sicher Lehren gezogen werden.
«Ich verstehe, dass die Angehörigen hässig sind»
«Da muss jetzt etwas passieren», findet auch die zugezogene Giswilerin Margrit Wehren. Die Reinigungskraft ist der Meinung, dass das Personal zwingend hätte einen Mundschutz tragen sollen: «Dieses Virus ist einfach noch nicht vorbei.» Sie selbst lasse sich zwar auch nicht impfen, sei aber sonst vorsichtig.
«Die Impfoffensive konnte noch nicht alle Leute erreichen. Aber es wird sicher auch hier bald besser werden», mutmasst Flight Attendant Andreas Zenger (35) aus Kloten ZH, der auf der Durchreise im Obwaldner Dörfchen gerade am Kiosk steht. Er hofft, dass die Todesfälle im Altersheim sowie die Schuldfrage bald geklärt werden können. «Aber ich verstehe, dass die Angehörigen hässig sind. Es ist wirklich traurig und schrecklich.»