Luzerner Hausbesitzerin Rosmarie Bichel (62) verliebte sich – und machte einen grossen Fehler
Die Zwangsversteigerung ist ihre letzte Hoffnung

Eine Frau verliebt sich, kauft ein Reihenhaus. Heute bleibt ihr als letzte Hoffnung die Zwangsversteigerung.
Publiziert: 26.03.2024 um 11:00 Uhr
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Aktualisiert: 11.04.2024 um 10:24 Uhr
Am 10. April soll das Haus von Rosmarie Bichel versteigert werden. Sie freut sich auf den Termin. (Symbolbild)
Foto: Illustration: Lucy Kägi
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Katharina Siegrist
Beobachter

Tessa will raus. Die Krallen der schokoladenbraunen Vizsla-Hündin klicken im Stakkato auf dem graumelierten Linoleum. Klick-klack, klick-klack. Tessa trippelt um Rosmarie Michels Beine. Die 62-Jährige steht am Küchentisch, sie beugt sich über einen Latte macchiato und zwei Bundesordner. «Alles wieder durchzugehen, das hat nochmals vieles in mir aufgewühlt», sagt sie und streicht sich eine silbergraue Haarsträhne hinters Ohr.

Draussen ist es kühl. Drinnen auch. «Ich heize nur noch, wenn es unbedingt nötig ist», sagt sie und zieht sich ihr Wolljäckchen etwas enger um die Schultern.

Die Leute reden

Rosmarie Michel heisst in Wirklichkeit anders, wir haben ihren Namen geändert. Weil der Ort, wo sie wohnt, klein ist und die Leute reden. Wie klein der Ort ist, verrät der Busfahrplan. Morgens, abends und über Mittag gibts Halbstundentakt – an Wochentagen. Wer dazwischen oder am Wochenende irgendwohin muss, braucht ein Auto.

Noch so ein Kostenpunkt, der sich nicht vermeiden lässt. Es gibt viele Rechnungen, bei denen Rosmarie Michel nicht weiss, wie sie sie bezahlen soll.

Sie verliebt sich heftig

Es begann 2008. Rosmarie Michel blättert in der Lokalzeitung. Über eine Kontaktanzeige lernt sie Werner Stucki kennen. Auch er heisst in Wirklichkeit anders. Er ist charmant. Sie verliebt sich schnell und heftig. Und lässt alle Vorsicht fahren. Als Stuckis Ex-Freundin ihr an einer Geburtstagsparty andeutet, warum sie Werner verlassen hat, will sie davon nichts hören.

Jahre davor hatte Werner Stucki zusammen mit seiner damaligen Partnerin ein Reiheneinfamilienhaus im Luzernischen gekauft. Trotz Trennung gehört ihr immer noch die Hälfte. Und solange die Ex noch im Grundbuch steht und darum ins Haus darf, weigert sie sich, die Hausschlüssel herauszugeben. Das stresst das frisch verliebte Paar.

Artikel aus dem «Beobachter»

Das ist ein Beitrag aus dem «Beobachter». Das Magazin berichtet ohne Scheuklappen – und hilft Ihnen, Zeit, Geld und Nerven zu sparen.

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Rosmarie Michel holt zum Befreiungsschlag aus. Im September 2009 drückt sie eine Stiftspitze ins Papier, zieht schwungvoll ihre Kringel, setzt ab und reicht den Kugelschreiber dem Notar zurück. Soeben hat sie der Ex die Eigentumshälfte abgekauft. Sie tritt damit in den Hypothekarvertrag mit der Bank ein. Mit 30’000 Franken aus ihrer Pensionskasse kauft sie ihren Werner frei. Einer trauten Zweisamkeit scheint damit nichts mehr im Weg zu stehen.

Rosmarie Michel nippt an ihrem Latte macchiato, schüttelt den Kopf – als könnte sie diesen Teil der Geschichte selbst kaum mehr glauben. Vor wenigen Jahren wurde bei ihr ADHS diagnostiziert. Früher sei sie deswegen sehr impulsiv gewesen, habe erst gehandelt und dann nachgedacht. Das mag einiges erklären. «Aber dieser Hauskauf war der grösste Fehler meines Lebens.»

Schläge und Hausverbot

Nach dem Einzug habe «dr Stucki» sein wahres Gesicht gezeigt, erzählt sie. Damals habe sie noch als Nachtwache im Altersheim gearbeitet. Wenn sie nach dem Dienst erschöpft nach Hause kam, habe er verlangt, dass sie noch den Haushalt mache, koche und mit dem Hund spazieren gehe. «Herr Stucki selbst hat nicht viel gemacht. Er liess sich von mir aushalten.» Sie habe herausgefunden, dass er sie angelogen und ihr Schulden verheimlicht habe. Werner Stucki sieht das anders. Für ihn ist die Beziehung aus einem ganz anderen Grund gescheitert «Rosmarie hat damals ohne mein Wissen ein fremdes Paar bei uns einquartiert», meldet er telefonisch beim «Beobachter».

Anfang Dezember 2009 eskaliert die Situation. Er geht auf sie los, es kommt zu Schlägen. Sie ruft die Polizei. Die wirft den Lebensgefährten aus dem gemeinsamen Haus und erteilt ihm für ein paar Tage Hausverbot. Stucki selbst beteuert, er habe sich nur gewehrt. Beide zeigen sich gegenseitig wegen Tätlichkeit an. Die Verfahren werden später eingestellt.

Rosmarie Michel zieht aus dem Haus, das ihr zur Hälfte gehört. Werner Stucki kann ihr ihren Anteil nicht abkaufen. Als IV-Rentner hat er nicht viel. Sie nimmt sich eine Anwältin und verlangt, dass das gemeinsame Eigentum aufgelöst wird. Mit Erfolg: 2012 entscheidet ein Gericht, dass das Reiheneinfamilienhaus versteigert werden muss.

Damit hätte diese Geschichte eine gute Wende nehmen können. Tut sie aber nicht.

Ein Schicksalsschlag folgt dem andern

Der Latte macchiato ist mittlerweile ausgetrunken. Rosmarie Michel greift Tessa am Halsband. Die Hündin springt auf, zieht und rupft Michel zur Haustüre. Klick-klack, klick-klack. Dann nach draussen, die Treppe hinunter, über die Strasse ins Gras.

Seit der Trennung hatte Rosmarie Michel vier Unfälle und sieben Operationen. Zweimal rutscht sie unglücklich auf dem Eis aus, reisst sich die Bänder in der einen Schulter und bricht sich den Schulterkopf in der anderen – gleich dreifach. Sie erleidet einen Bandscheibenvorfall, muss die Gebärmutter entfernen lassen, verletzt sich den Fuss. Eine Aneinanderreihung von dummen Zufällen und Schicksalsschlägen. Michel verliert ihren Job als Nachtwache. Das Geld wird immer knapper.

Rosmarie Michel bekommt zwar eine 50-prozentige IV-Rente. Doch nach einer Nachzahlung der Versicherung schnellen die Steuern in die Höhe. Und auch ihren Teil am Haus muss sie weiterhin zum Eigenmietwert versteuern. Obwohl sie schon lange nicht mehr dort wohnt. Werner Stucki denkt nicht daran, ihr Miete zu zahlen.

Niemand will das Haus

Sie meldet sich beim Teilungsamt Luzern, das für solche Hausversteigerungen zuständig ist. Sie drängt auf eine möglichst schnelle Auktion. Werner Stucki hingegen hat es nicht eilig. Im Gegenteil: Er wohnt immer noch im Haus – und das günstig. Anfang 2014 ist es dann endlich so weit. Im Säli eines «Ochsen» wird das Reiheneinfamilienhaus versteigert. 19 Leute drängen sich um die polierten Wirtshaustische, werfen einen Blick in die Steigerungsbedingungen, den Schätzbericht und raunen sich zu. «Letztlich waren das Nachbarn, die wissen wollten, was da vor sich geht», sagt Michel. Ein Kaufangebot geht nicht ein.

Dafür schickt das Teilungsamt für seinen Aufwand eine Rechnung. Knapp 10’000 Franken. Rosmarie Michel und Werner Stucki müssen bezahlen. Ihre Hälfte stottert Michel in monatlichen Raten von 250 Franken ab. Mehr liegt nicht drin. «Danach hatte ich Angst vor weiteren Kosten. Ich habe den Verkauf darum nicht mehr forciert.» Auch ihre Anwältin kann sie sich nicht mehr leisten. Jahrelang passiert nichts.

Sie bekommt keine Ergänzungsleistungen

Das Haus ist ein Klotz am Bein, den sie nicht mehr loswird. Und es kommt noch schlimmer. Rund 3000 Franken hat Rosmarie Michel pro Monat zur Verfügung – je nachdem, wie viele Stunden sie arbeiten kann. Das ist wenig.

Als sie deshalb Ergänzungsleistungen beziehen will, wird ihr Antrag abgelehnt. Die Haushälfte wird ihr als Vermögen angerechnet. Ohne Ergänzungsleistungen bekommt sie noch nicht mal eine Kultur-Legi und damit auch keine Vergünstigungen für Zeitschriften oder Veranstaltungen. «Ich bin sozial sehr isoliert», sagt Rosmarie Michel. Die Zeiten, in denen sie zum Spass zu Lottospielen gegangen ist, sind gezwungenermassen vorbei.

Sie schieben sich die Schuld zu

Warum hat das Haus in all den Jahren keine Käuferin gefunden? Das ehemalige Paar schiebt sich gegenseitig die Schuld zu. Sie sagt, sie hätte einen Interessenten gefunden, der das Haus für eine halbe Million habe kaufen wollen. Nur: «Herr Stucki» sei mit dem Preis nicht einverstanden gewesen. Er sagt, es sei alles für eine andere Interessentin vorbereitet gewesen. Nur: Rosmarie habe sich geweigert, dem Notar die nötigen Ausweiskopien zu schicken. Auch einen Maklervertrag habe sie nicht unterschreiben wollen.

Rosmarie Michel greift sich die leere Tasse vor sich, steht auf und geht zur Spüle. Auf dem Weg streichelt sie Tessa über die Flanken. «Jetzt hoffe ich auf den 10. April.» Tatsächlich kommt Rosmarie Michel jemand zu Hilfe, von dem sie es nicht erwartet hätte: das Steueramt. Die alten Steuerschulden holen Werner Stucki ein. Das Amt will Geld sehen. Es verlangt die Zwangsversteigerung, die das Betreibungsamt für April angesetzt hat.

Rosmarie Michel drückt sich mit Daumen und Zeigefinger die Augen zu, streicht über den Nasenrücken und blinzelt fast fröhlich. Tessa schwänzelt. Endlich wieder etwas Hoffnung. Darauf, dass schon bald jemand anderes eine Stiftspitze ins Papier drückt, schwungvoll ein paar Kringel zieht und absetzt. Und damit hoffentlich mehr Glück hat als sie.

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