Mit ihr wischt man keinen Schmutz weg, sondern Menschen: Am 12. September 2012 rief die Smartphone-App Tinder eine knallharte Revolution des globalen Dating-Business aus.
Dank fleissigen Swipens kommt es nun rund um den Globus zu 1,5 Millionen Dates – pro Woche. Denn im Jahr 2022 hat Amors Pfeil ohne WLAN-Verbindung (fast) keine Chance mehr. Im Sekundentakt swipen sich Menschen zur grossen Liebe: Nahezu jeder kennt jemanden, der auf Tinder einen Partner gefunden hat. Oder zumindest eine Liaison. Ex-Raiffeisen-Chef Pierin Vincenz pflegte laut eigenen Aussagen sogar Bewerbungsgespräche mit Tinder-Dates zu führen.
Wer Tinder noch nie genutzt hat, kann sich den Service der texanischen Match Group Inc. wie den aufmerksamen Gastgeber einer Party vorstellen: Er verkuppelt Unbekannte, die es nicht weit zueinander haben. Ein Algorithmus präsentiert dem Nutzer in der GPS-basierten Welt schier endlose Stapel von Profilbildern. Mit einem Wisch (engl. wwipe) nach rechts signalisiert man sein Interesse. Einfach, schnell, bequem. Bei Desinteresse wird nach links geswipt. Nach eigenen Angaben ist Tinder in 190 Ländern und mehr als 40 Sprachen verfügbar. Die App hat längst Einzug in die Popkultur gefunden. Das Verb «tindern» schaffte es bereits 2017 in den Duden. Im Internet findet sich ein Sammelsurium von lustigen bis schrägen Chatverläufen und Tinder-Geschichten.
Die Hochs und Tiefs von Tinder
Medien wie der deutsche «Stern» berichten regelmässig über dramatische Ereignisse: «Bei Tinder entdeckt ein Student aus den USA seine Traumfrau – und wischt aus Versehen in die falsche Richtung!» Das Swipe-Auswahlprinzip hat technische Standards gesetzt: Es gibt Tinder-inspirierte Jobbörsen, Wahlhilfen, Verkaufsportale. Und im Ukraine-Krieg ist die App eine der wenigen Möglichkeiten, authentische Bilder von den Zerstörungen in der Ukraine nach Russland zu senden.
Doch wie jede gute Ehe kennt Tinder Hochs und Tiefs. Die «New York Times» porträtierte jüngst Menschen, die nach jahrelangem Binge-Swiping in tiefster Erschöpfung landeten. Auf Netflix erschien diesen Sommer der Film «Tinder-Swindler»; eine Doku über einen Liebesbetrüger, der Frauen über die Sex-App grosse Summen Geld abknöpfte. Und während Corona anderen Dating-Plattformen einen grossen Auftrieb verpasste, stagnieren bei Tinder die Nutzerzahlen.
Viele Gründe für stagnierende Nutzerzahlen
Die Gründe sind zahlreich. User der ersten Stunde beschäftigen sich heute eher mit Familienplanung. Die Gen Z bevorzugt Tiktok, wo man schon vor dem Date einen – rudimentären – Einblick ins Wesen des Gegenübers bekommt. Body-Shaming-Aktivisten kritisieren Tinder als oberflächlich, es fokussiere auf Äusserlichkeiten, reduziere Menschen auf ein simples Foto.
Statistiker haben errechnet, dass die Chancen, als «Durchschnittsmann» auf Tinder eine Frau zu treffen, bei eins zu 150 liegen. Das Risiko hingegen, als Frau unerwünschte Fotos männlicher Geschlechtsteile zu erhalten, dürfte nicht weniger erschreckend sein. Viele digitale Flirter wechseln daher zur gelben Konkurrentin Bumble, auf der die Frau den ersten Schritt machen muss. Lanciert hat die App Whitney Wolfe Herd, ehemalige Mitbegründerin von Tinder, die das Unternehmen wegen sexueller Belästigung verliess – begleitet von einer Millionenklage.
Tinder hinkt hinterher
Auf Tinder gibt es nun eine mit Bumble vergleichbare Funktion. Doch die Swipe-App, die unsere Art zu flirten verändert hat, scheint ihrer Zeit inzwischen ein wenig hinterherzuhinken. Und doch: Die rote Flamme dürfte nicht so schnell erlöschen.
Denn die Hoffnung auf einen Tropfen Liebe ist bekanntlich stärker als ein Ozean voller Verstand.