Notfalleinsätze für verirrte Tourengänger haben sich verfünffacht
Sie überschätzen sich — und müssen dann vom Heli gerettet werden

Der Bergsport boomt, doch viele überschätzen ihr Können. In einem Jahr gab es in den Bergen 109 Todesopfer.
Publiziert: 17.03.2024 um 00:01 Uhr
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Aktualisiert: 21.03.2024 um 14:00 Uhr
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Das Bergunglück im Wallis hat heftige Debatten ausgelöst: Fehlt den Tourengängern der Respekt vor dem Berg?
Foto: AFP/Kantonspolizei Wallis

Die Natur zeigt sich an jenem Tag von ihrer grausamsten Seite. Bitterkalt ist es, hinzu kommt ein beissender Wind von über 100 km/h. Die Sicht: praktisch null.

Sechs Berggänger sind am vergangenen Wochenende auf dem Weg von Zermatt nach Arolla auf einer Höhe von mehr als 3500 Metern in einen Sturm geraten, fünf von ihnen konnten nur noch tot geborgen werden. Die Suche nach der sechsten Person, einer 28-jährigen Frau, hat die Polizei am Donnerstagabend eingestellt.

Selten beschäftigte ein Unglück die Schweiz derart wie der Tod dieser Berggänger. Die Gruppe, die für die anstehende Patrouille des Glaciers trainierte, eines der härtesten Skitourenrennen der Welt, war gemäss dem Zermatter Rettungschef Anjan Truffer sehr schlecht ausgerüstet: mit leichter Kleidung und kleinen Schaufeln, mit denen sie im harten Schnee chancenlos waren, eine schützende Höhle zu graben. Die Skitourengänger seien orientierungslos in der Höhe erfroren, sagte Truffer.

2022 gerieten über 3500 Personen in Bergnot

Ihre mangelhafte Ausrüstung und eine mutmassliche Fehleinschätzung der Wetterprognosen haben heftige Debatten ausgelöst: Fehlt den Tourengängern der Respekt vor den Bergen, wie nun einige Expertinnen kritisieren?

Klar ist: Skitouren erleben seit ein paar Jahren einen regelrechten Boom. Insbesondere während der Pandemie ist der Markt dafür deutlich gewachsen. Der Ausrüster Dynafit spricht in der «NZZ» von einer Verdoppelung.

Und grundsätzlich ist der Bergsport in den letzten Jahren sicherer geworden: Die technische Ausrüstung ist besser, die Lawinenvorhersage präziser geworden. Die Rekordzahlen der Bergretterinnen reflektieren vor allem auch die schiere Masse an Menschen, die im Gebirge unterwegs sind. Die Anzahl Unfälle steigt nicht im selben Mass wie die Anzahl Leute am Berg. Laut der neuesten Bergnotfallstatistik des Schweizer Alpen-Clubs (SAC) gerieten 2022 über 3500 Personen in Bergnot, 109 starben – beide Zahlen sind im Vergleich zum Vorjahr gesunken.

Es ist der Faktor Mensch, der immer öfter zum Verhängnis wird. Auffällig ist gemäss SAC-Statistik der starke Anstieg der sogenannten Blockierungen am Berg. Betroffene sind dabei nicht mehr in der Lage, ihre Tour fortzusetzen oder umzukehren, sie haben sich verirrt oder stecken fest. Die Betroffenen können in der Regel gesund oder nur leicht verletzt gerettet werden. Im Bericht heisst es: «2022 beanspruchten deutlich mehr blockierte Personen (1008) Nothilfe als im 10-jährigen Durchschnitt (607).» Insbesondere auf Skitouren haben Blockierungen gegenüber den Vorjahren stark zugenommen. Während 2020 noch 26 Touren-Notfälle verzeichnet wurden, waren es 2022 mit 122 Fällen bereits fast fünfmal so viele.

Ein Viertel aller Bergnotfälle sei von solchen Blockierungen betroffen, heisst es auf der Website des SAC. Ein Viertel, der mit besserer Vorbereitung vermeidbar wäre. Denn: Häufig haben Betroffene ihre Tour unterschätzt, ungenügend oder gar nicht geplant oder die Aktivität nicht aufs eigene Können abgestimmt.

Schmerzhaft wird es für die Betroffenen spätestens, wenn sie die hohe Rechnung der Rettungsaktion selbst berappen müssen. Denn gemäss Bundesgericht müssen die Versicherungen die Kosten einer solchen Rettung nur übernehmen, wenn ein Unfall oder eine «Notsituation mit drohendem Gesundheitsschaden bei fehlender eigener Rettungsmöglichkeit» vorliegt.

«Man will alles optimieren»

Marcel Kraaz (53), Ressortleiter Breitensport beim SAC und selbst Bergführer, kann sich verschiedene Gründe für die Zunahme vorstellen. Die Leistungsfähigkeit werde im Bergsport – wie in der Gesellschaft – zusehends wichtiger: «Man will alles optimieren.» Diese Entwicklung ziehe vermehrt Personengruppen an, die den Sport übers Naturerlebnis stellen. Leichtere Ausrüstung, die schnellere Geschwindigkeiten erlaubt, erlebe einen Boom. Es gehe zunehmend um eines: höher, schneller, weiter.

So gebe es etwa Expeditionsbergsteiger, die sich zu Hause im Überdruckzelt akklimatisieren und dann mit einem Helikopter in ein Basislager fliegen lassen. Hauptsache schnell, Hauptsache auf den Gipfel.

Oder Skyrunner, die eine Art Trailrunning der Extreme betreiben, das zunehmend beliebt ist. 2018 rannte der Walliser Alpinist Andreas Steindl in weniger als vier Stunden von Zermatt aufs Matterhorn und wieder zurück – 2861 Höhenmeter, 22,8 Leistungskilometer. «Normale» Bergsteigerinnen brauchen allein vier Stunden für den Weg von der Hörnlihütte auf den Gipfel.

Unglück im Wallis zeigt: Es kann jederzeit etwas passieren

Kraaz bedauert diesen Optimierungstrend, denn: Je weniger Reserven man einplane, desto anfälliger werde das Ganze. «Wie im täglichen Leben.» Mit dem Unterschied: Fehlten in den Bergen die Reserven, seien die Folgen schnell einmal fatal.

Die richtige Vorbereitung für eine Skitour

Training: Skitouren sind anspruchsvoll. Wer auf eine Skitour geht, sollte körperlich fit sein und die wichtigsten Techniken wie beispielsweise Tiefschnee fahren beherrschen. Insbesondere Ausdauer, Kraft und Koordination sind wichtig.

Richtige Ausrüstung: Neben der Skitourenbekleidung ist eine Notfallausrüstung wichtig. Diese umfasst beispielsweise Biwaksack, Rettungsdecke, Reparaturwerkzeug, Lawinenschaufel und -sonde. Packlisten findet man auf bergschaft.ch, berg-freunde.ch oder bfu.ch.

Routenplanung: Die Planung ist das A und O. Die Route sollte immer im Voraus geplant werden. Wichtige Hilfsmittel sind beispielsweise die App White Risk oder skitourenguru.ch.

Wettercheck: Stets das Wetter beobachten und auf allfällige Veränderungen achten.

Lawinenkunde: Lawinen sind die grösste Gefahr, und Kenntnisse in Lawinenkunde deshalb Pflicht. Der Schweizerische Alpen-Club und der Schweizer Bergführerverband bieten Kurse in Lawinenkunde an. Personen mit wenig Erfahrung sollten sich einer lawinenkundigen Leitung anschliessen.

Training: Skitouren sind anspruchsvoll. Wer auf eine Skitour geht, sollte körperlich fit sein und die wichtigsten Techniken wie beispielsweise Tiefschnee fahren beherrschen. Insbesondere Ausdauer, Kraft und Koordination sind wichtig.

Richtige Ausrüstung: Neben der Skitourenbekleidung ist eine Notfallausrüstung wichtig. Diese umfasst beispielsweise Biwaksack, Rettungsdecke, Reparaturwerkzeug, Lawinenschaufel und -sonde. Packlisten findet man auf bergschaft.ch, berg-freunde.ch oder bfu.ch.

Routenplanung: Die Planung ist das A und O. Die Route sollte immer im Voraus geplant werden. Wichtige Hilfsmittel sind beispielsweise die App White Risk oder skitourenguru.ch.

Wettercheck: Stets das Wetter beobachten und auf allfällige Veränderungen achten.

Lawinenkunde: Lawinen sind die grösste Gefahr, und Kenntnisse in Lawinenkunde deshalb Pflicht. Der Schweizerische Alpen-Club und der Schweizer Bergführerverband bieten Kurse in Lawinenkunde an. Personen mit wenig Erfahrung sollten sich einer lawinenkundigen Leitung anschliessen.

Raphael Wellig (59) ist bereits seit den 80ern auf Bergtouren, damals gab es noch kaum technische Hilfsmittel. Er sagt: «Man hatte viel grösseren Respekt vor der Natur.» Heutzutage verlasse man sich zu sehr auf die Technik – und wiege sich in vermeintlicher Sicherheit. Er stelle eine gewisse Überheblichkeit fest – unter anderem auch wegen Social Media.

Das Unglück im Wallis habe ihm wieder vor Augen geführt, dass jederzeit etwas passieren könne: «Man ist winzig in der Natur. Es braucht nur wenig und der Mensch kommt bereits an seine Grenzen.» Umso wichtiger sei die richtige Vorbereitung, sagt Wellig. Potenziell schwierige Situationen müsse man vorher einmal durchspielen: «Dann weiss man auch, was im Ernstfall zu tun ist.» Während der Tour müsse man sich immer wieder fragen: Habe ich noch genügend Reserven? «Im Zweifelsfall lieber einmal früher umkehren.» Wellig hofft, dass Skitourengänger durch das Bergunglück im Wallis wachgerüttelt werden: «Wir sollten die Berge nicht unterschätzen.»

«Kalt, dunkel, eng – das ist beängstigend»
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