Vor einer Kirche in Vex VS brennen am Dienstagmorgen Grabkerzen. Am Abend zuvor versammelten sich hier Hunderte Menschen, um den drei Brüdern aus Vex, die zwischen Zermatt VS und Arolla VS bei einer Skitour ums Leben kamen, zu gedenken. «Kinder des Dorfes» wurden sie hier genannt. Sie waren wohlbekannt. Eine Dorfbewohnerin nennt sie gegenüber der «Berner Zeitung» «une famille en or», eine goldene Familie. Die Bewohnerinnen und Bewohner von Vex sind noch immer fassungslos. Fünf Menschen starben am Wochenende während einer ambitionierten Skitour. Die sechste Person wird noch vermisst. Wie konnte so eine Tragödie passieren? Blick zeichnet die Geschehnisse nach.
Samstag, 9. März, 10 Uhr – Zermatt
Seit Stunden schon sind die Tourengänger unterwegs. Startort war Zermatt VS am frühen Morgen. Ihr ambitioniertes Ziel: Innert einem Tag auf der Haute Route von Zermatt bis nach Arolla VS. Eine schwierige Tour über hochalpines Gelände und Gletscher – 2000 Höhenmeter galt es zu überwinden. Mindestens einer der Tourengänger nahm schon einmal an der legendären «Patrouille des Glaciers» teil. Die Gruppe ist erfahren.
Samstag, 9. März, 13 Uhr – Zwischen Zermatt und Arolla
Die leicht ausgerüstete Gruppe von fünf Männern und einer Frau ist unterwegs. Doch die Wetterverhältnisse verschlechtern sich zunehmend. «Es ist verrückt. Man sieht es kommen, eine Wand aus Wolken», sagt ein Bergtourengänger gegenüber Blick über das Aufziehen eines Unwetters in den Bergen. An diesem Tag warnte Meteoschweiz vor Windböen von bis zu 130 Kilometern pro Stunde und viel Niederschlag. Der exponierte Sektor am Tête Blanche bietet keinerlei Schutzmöglichkeiten.
Samstag, 9. März, 16.03 Uhr – Arolla
Kurz nach 16 Uhr nimmt ein besorgtes Familienmitglied das Telefon in die Hand und wählt die Nummer der Kantonalen Walliser Rettungsorganisationen KWRO. Sie hat die Gruppe der Berggänger in Arolla vergeblich erwartet und befürchtet jetzt das Schlimmste.
Samstag, 9. März, 17.19 Uhr – Tête Blanche 3590 m.ü.M.
Die Befürchtungen bewahrheiten sich. Ein Mitglied der Skitourengruppe setzt um 17.19 Uhr einen Notruf ab. Die verstreuten und orientierungslosen Tourengänger stehen mitten in einem riesigen Hang und wissen weder vor noch zurück. Der Nebel ist dick, der eisige Wind peitscht ins Gesicht. Verzweifelt versuchen sie, ein Not-Biwak zu erstellen. Aufgrund der ambitionierten Route haben die sechs mutmasslich keine Biwak-Säcke dabei. So buddeln sie sich behelfsmässig ein Loch, um dem Wind und der Kälte zu entkommen. Doch die leichten Lawinenschaufeln, die sie dabei haben, können gegen die dicke Schneedecke wenig ausrichten. So rotten sie sich zusammen und harren aus.
Samstag, 9. März, 18.20 Uhr – Zermatt
Eine Rettungskolonne macht sich von Zermatt aus auf den Weg, die verlorene Gruppe zu finden. Doch auf 3000 Metern über Meer, rund 500 Meter unterhalb der Verunglückten, kehren die Retter wieder um. Das Wetter ist zu gefährlich.
Samstag, 9. März, 21 Uhr – KWRO, Sierre VS
In Absprache mit den Familien entscheiden die Kantonalen Walliser Rettungsorganisationen KWRO, die Rettungsversuche auf dem Landweg zu unterbrechen. Das schlechte Wetter, die Lawinengefahr, die Kälte, der Wind und der Nebel – der Aufstieg ist nicht sicher genug.
Sonntag, 10. März, 5 Uhr – KWRO, Sierre
Den Spezialisten gelingt es, Mobilfunkdaten, GPS, Angaben der Familien und soziale Netzwerke der Verunglückten auszuwerten. So bestimmen sie den wahrscheinlichen Aufenthaltsort der Berggänger. Spezialteams aus Zermatt und Sitten unterstützen die Bergspezialisten der Kantonspolizei und wagen den Aufstieg.
Sonntag, 10. März, 11.42 Uhr – Sitten VS
Die Polizei informiert die Öffentlichkeit: Es werde auf der Skitourenroute zwischen Zermatt und Arolla aktiv nach sechs vermissten Personen gesucht. Es würden zahlreiche technische Mittel zur Lokalisierung der Skitourengänger eingesetzt. «Die Wetterbedingungen sind derzeit sehr schlecht, was den Einsatz der Rettungskräfte sehr schwierig macht.»
Sonntag, 10. März, 13 Uhr – unbekannter Ort
Ein Helikopter vom Typ Super Puma der Schweizer Armee hebt ab und unterstützt die Walliser Einsatzkräfte.
Sonntag, 10. März, 19.30 Uhr – Dent-Blanche-Hütte
Ein Rettungsteam, bestehend aus zwei Spezialisten, einem Arzt und einem Polizisten der Gebirgsgruppe wird in der Nähe der Dent-Blanche-Hütte abgesetzt. Sie arbeiten sich in Richtung des Unglückssektors vor.
Sonntag, 10. März, 21.20 Uhr – Tête Blanche
Die Retter erreichen das weitläufige, weisse Feld am Tête Blanche. Sie entdecken fünf der sechs vermissten Personen. Die traurige Gewissheit: Keine zeigt ein Lebenszeichen. Die Tourengänger trugen dünne Rennanzüge und waren nur leicht ausgestattet. Die fünf Personen müssen in Panik versucht haben, sich eine schützende Höhle zu bauen. Danach sind sie wohl erfroren.
Montag, 11. März, 04.51 Uhr Sitten
Die Walliser Kantonspolizei bestätigt: Fünf der sechs vermissten Personen wurden leblos aufgefunden. Die sechste Person – gemäss Todesanzeigen die Frau – konnte noch nicht gefunden werden. Die Suche nach ihr ist noch im Gange.