Die Wirtschaft trotzt der Krise, der Arbeitsmarkt boomt. Viele Firmen finden dringend benötigtes Personal nur im Ausland. Damit wächst die Schweizer Bevölkerung – schon bald dürften es neun Millionen Menschen sein.
Das gefällt nicht allen. Für Swiss-Life-Präsident Rolf Dörig (65) ist die Zuwanderung das grösste Problem des Landes. Vergangene Woche gab der Wirtschaftsführer seinen Beitritt zur SVP bekannt und forderte eine Neuregelung der Immigration: «Warum führen wir eigentlich nicht wieder das Saisonnierstatut ein, also eine zeitlich begrenzte Aufenthaltsbewilligung ohne Familien?», fragte er im Interview mit SonntagsBlick. «Das käme wohl auch vielen ausländischen Fachkräften entgegen.»
Es ist nicht das erste Mal, dass ein prominentes SVP-Mitglied eine Rückkehr zum Saisonnierstatut propagiert. Auch der frühere Parteichef Toni Brunner (48) sagte vor einigen Jahren: «Das war ein sehr gutes System, leider hat es die Politik zuerst aufgeweicht, dann abgeschafft.»
Katastrophale Umstände
Bei Luigi Fragale (39) wecken solche Aussagen schreckliche Erinnerungen. Der Solothurner kam Ende der 80er-Jahre als Sohn eines italienischen Saisonniers in die Schweiz. Er weiss, was dieses «Kontingentierungsmodell» für eine Familie bedeuten kann: «Meine Mutter, mein kleiner Bruder und ich waren dadurch illegal in der Schweiz. Wir mussten im Versteckten leben. Ich war als Kind 2,5 Jahre lang praktisch eingesperrt.»
Das Saisonnierstatut wurde in der Schweiz 1934 eingeführt und bestand bis zur Einführung der Personenfreizügigkeit im Jahr 2002. Einerseits sollte es dafür sorgen, dass hiesige Firmen genügend Arbeitskräfte hatten, um das rasante Wirtschaftswachstum zu bewältigen – gleichzeitig sollte damit aber auch eine «Überfremdung» verhindert werden.
Die Aufenthaltsdauer der Saisonniers, die grösstenteils aus Italien, Spanien, Portugal und später vom Balkan stammten, war auf neun Monate pro Jahr beschränkt. Viele der Arbeiter lebten auf engstem Raum in Baracken, oft unter katastrophalen hygienischen Bedingungen. Wohnorts- oder Arbeitgeberwechsel waren verboten. Das Schlimmste jedoch: Sie mussten ihre Frauen und Kinder in der Heimat lassen.
Luigis Vater Antonio Fragale hielt die Trennung von seinen Liebsten nicht lange aus. Die Rückkehr in seine perspektivlose Heimat Kalabrien war für ihn aber keine Option. Also holte er seine Familie illegal in die Schweiz und versteckte sie in einer kleinen Wohnung in der Solothurner Vorortsgemeinde Bellach. Für Luigi eine traumatische Zeit: «Wir waren fast immer drinnen. Wenn ich rausdurfte, dann nur auf eine kleine Wiese direkt vor dem Haus.»
Familie Fragale lebte in ständiger Angst, entdeckt zu werden. Der kleine Luigi durfte nicht zu laut sein, damit sich niemand gestört fühlte. Spielkameraden gab es kaum.
Zudem wurde ihm stets eingetrichtert, extrem vorsichtig zu sein, um sich beim Spielen auf keinen Fall zu verletzen. «Wir waren ja nicht versichert und konnten deshalb auch nicht zum Arzt oder ins Spital.»
Weil sich eine Frau in der Schulgemeinde für die Belange der Saisonnierkinder einsetzt, wird Luigi trotz allem eingeschult. Dann aber droht ihm, seinem zwei Jahre jüngeren Bruder und Mutter Rosanna plötzlich die Ausweisung: Ein anderer Saisonnier hatte bei der politischen Gemeinde protestiert, weil die Fragales anscheinend unbehelligt hier in der Schweiz leben durften, während seine Familie in Italien bleiben musste.
Der Dokumentarfilm «Im Land der verbotenen Kinder» von Jörg Huwyler und Beat Bieri beschäftigt sich mit den Schicksalen von ehemaligen Saisonniers und ihren Familien. «Das Thema beschäftigt uns seit Jahren. Aber wir haben erst jetzt Betroffene gefunden, die bereit waren, über das Erlebte zu sprechen.» Der Film läuft zurzeit in Zürich (Kino Riffraff) und in Luzern (Bourbaki) und ab Februar in anderen Schweizer Städten.
Im Neuen Museum Biel wird die Geschichte der Schweiz und ihrer Arbeitsmigranten derzeit ebenfalls aufgearbeitet. Die Sonderausstellung «Wir, die Saisonniers ...» läuft bis Ende Juni 2023.
Vor etwas mehr als einem Jahr wurde in Zürich zudem der Verein «Tesoro» gegründet, der von den Schweizer Behörden eine Entschuldigung fordert für ihren Umgang mit den Saisonniers.
Der Dokumentarfilm «Im Land der verbotenen Kinder» von Jörg Huwyler und Beat Bieri beschäftigt sich mit den Schicksalen von ehemaligen Saisonniers und ihren Familien. «Das Thema beschäftigt uns seit Jahren. Aber wir haben erst jetzt Betroffene gefunden, die bereit waren, über das Erlebte zu sprechen.» Der Film läuft zurzeit in Zürich (Kino Riffraff) und in Luzern (Bourbaki) und ab Februar in anderen Schweizer Städten.
Im Neuen Museum Biel wird die Geschichte der Schweiz und ihrer Arbeitsmigranten derzeit ebenfalls aufgearbeitet. Die Sonderausstellung «Wir, die Saisonniers ...» läuft bis Ende Juni 2023.
Vor etwas mehr als einem Jahr wurde in Zürich zudem der Verein «Tesoro» gegründet, der von den Schweizer Behörden eine Entschuldigung fordert für ihren Umgang mit den Saisonniers.
Glück im Unglück
Der Verrat ihres Landsmanns erweist sich als Glück für Luigi und seine Familie. Sie müssen nicht nach Italien zurück, sondern erhalten eine feste Aufenthaltsbewilligung – allerdings nicht aus Nächstenliebe, sondern aus monetären Gründen: «Mein Vater hatte von seinem Arbeitgeber ein Darlehen erhalten für ein Haus in Kalabrien. Und weil mein Vater drohte, ebenfalls nach Italien zurückzukehren, falls die Familie gehen müsse, klappte es plötzlich mit einer Aufenthaltsbewilligung. Der Arbeitgeber befürchtete, dass er sein Geld sonst nie zurückerhalten würde.»
Seine ganze Geschichte erzählt Luigi Fragale im neuen Dokumentarfilm «Im Land der verbotenen Kinder» (siehe Box). Tausende andere Saisonnierkinder hätten ähnliche Geschichten zur erzählen, weiss Toni Ricciardi, Migrationshistoriker an der Universität Genf. «Unseren neusten Untersuchungen zufolge gehen wir davon aus, dass in der Schweiz zwischen 1949 und 1975 rund 50'000 Saisonnierkinder im Geheimen leben mussten.» Hinzu kommen laut Ricciardi eine halbe Million Minderjährige, die wegen des Saisonnierstatuts getrennt von ihren Eltern aufwachsen mussten. «In Italien lebten diese Kinder oft bei den Grosseltern oder in Heimen.»
Für Familie Fragale war die Zeit der Illegalität Anfang der 90er-Jahre vorbei. Mit den Folgen kämpfte Luigi aber noch lange. «In der Schule blieb ich extrem verschlossen und brachte kaum ein Wort heraus. Die Angst, etwas falsch zu machen, war nicht plötzlich von einem Tag auf den anderen weg.»
Erst während seiner Ausbildung zum Coiffeur findet er langsam zu sich selbst. Eine entscheidende Rolle gespielt habe dabei sein Lehrmeister Hugo Rütimann, bei dem er in Olten SO die Coiffeurschule besuchte. «Er hat sich sehr viel Zeit genommen und mich unter seine Fittiche genommen. Dafür bin ich ihm ewig dankbar.»
Mittlerweile hat Fragale sein eigenes Coiffeurgeschäft. Er hat seinen Weg gemacht und sich auch längst mit der Schweiz versöhnt, deren Gesetze ihn um eine unbeschwerte Kindheit gebracht haben: «Mittlerweile weiss ich, dass es hier auch sehr viele gute Menschen gibt», sagt er und lacht.
Dass sich einige Schweizer nun das Saisonnierstatut zurückwünschen, kann er aber nur schwer akzeptieren.Für ihn ist klar: «Eine Politik, die Kinder von ihren Eltern trennt und dafür sorgt, dass Familien im Versteckten leben müssen, darf es nie wieder geben.»