Die Aufregung war gross, als Sanija Ameti (30) am vergangenen Sonntag eine neue Einbürgerungs-Initiative ankündigte. «Wir arbeiten mit weiteren Akteuren an einer Initiative für ein liberales Bürgerrecht», sagte die Chefin von Operation Libero im SonntagsBlick. Offen blieb, worum es in der Initiative konkret geht – und wer dahintersteckt.
Auftritt Arber Bullakaj (36): Der SP-Politiker aus Wil SG erhielt mit 19 Jahren den roten Pass. Ihn treibt das «willkürliche Schweizer Einbürgerungssystem» schon sein halbes Leben lang um. Vor drei Jahren gründete er deshalb den Verein Aktion Vierviertel. Das Ziel: ein Recht auf Einbürgerung.
Jetzt macht die Aktion Vierviertel Nägel mit Köpfen. Sie lanciert demnächst die Volksinitiative für ein modernes Bürgerrecht. In zwei Wochen will die Hauptversammlung des Vereins den definitiven Text beschliessen. Wenig später soll die Unterschriftensammlung beginnen.
«Sie haben ja gar keine Ausländerfrisur»
Was fordern die Initianten? Erstens eine Verkürzung der Wohnsitzfrist. «Diese ist mit zehn Jahren viel zu hoch angesetzt», sagt Bullakaj. Zweitens verlangen die Initianten objektive Kriterien für die Erlangung des Bürgerrechts. «Es braucht einheitliche Rahmenbedingungen in allen Schweizer Gemeinden, um die Willkür auf lokaler Ebene zu eliminieren.»
Mergim Ahmeti (27) kann ein Lied davon singen. Er ist in Montlingen SG geboren und aufgewachsen. In dem kleinen Dorf im St. Galler Rheintal geht er zur Schule, spielt Fussball, absolviert eine Lehre. 2017, mit 22 Jahren, will er sich einbürgern lassen.
Der Prozess wird zum Spiessrutenlauf. Kaum hat das Gespräch mit dem Einbürgerungsrat der Gemeinde begonnen, kommentiert man dort Ahmetis langes Haar: «Sie haben ja gar keine Ausländerfrisur.» Dann folgt eine Bemerkung zu seinem muslimischen Glauben: «Aber nicht, dass Sie jetzt den Gebetsteppich ausrollen.» Das Gremium will wissen, was er davon halte, dass Frauen in Saudi-Arabien nicht Auto fahren dürfen. Welche Sprache er zu Hause spreche. Und wie viele Schweizer Freunde er habe.
Viele Freunde in anderen Gemeinden
Dann die offenbar entscheidende Frage: Wie heissen die Beizen im Dorf? Ahmeti weiss: Es sind vier. Ahmeti weiss: Eine davon ist der Hirschen. Wie die anderen drei heissen, fällt ihm nicht ein.
Das genügt dem Einbürgerungsrat. Weil der junge Mann die Namen nicht nennen kann, aktuell in keinem Verein tätig ist und überdies viele Freunde in anderen Gemeinden hat, kommt das Gremium zum Schluss: «Die Integration im Dorf Montlingen ist schwach vorhanden.» Einbürgerungsgesuch abgelehnt. So steht es im Gesprächsprotokoll, das SonntagsBlick vorliegt.
Ahmeti nimmt sich einen Anwalt und legt beim Kanton Rekurs ein. Dieser kommt zum Schluss: Der Einbürgerungsrat habe seinen Ermessensspielraum «missbräuchlich bzw. willkürlich gehandhabt». Ahmeti bekommt recht. Und den Schweizer Pass. Die Anwaltskosten bleiben grösstenteils an ihm hängen.
Mangelnde Integration wegen ausserkantonalem Job
Auch Sonia Casadei ist in der Schweiz geboren und aufgewachsen. Als sie sich 2015 in Arth SZ einbürgern lassen will, wirft ihr der Einbürgerungsrat mangelnde Integration vor – weil sie einen Job ausserhalb ihres Wohnkantons angenommen hat. Ihren Mann trifft derselbe Vorwurf: Als Gipser hat er Kunden, die nicht nur aus Schwyz kommen. Zudem weiss er keine Antwort auf die Frage, mit wem der Bär im Tierpark Goldau das Gehege teilt. Beide Einbürgerungsgesuche werden abgelehnt.
Casadei und ihr Mann legen Rekurs ein. Fünf Jahre später muss die Gemeinde beide einbürgern. Doch die schlechte Erfahrung lässt Casadei nicht ruhen – sie wird aktiv. Gemeinsam mit Bekannten ruft sie die Website einbürgerungsgeschichten.ch ins Leben, die ähnliche Fälle aus dem Kanton Schwyz dokumentiert. Denn: «Was mir und meiner Familie widerfahren ist, kommt leider häufig vor.»
Die Kandidaten für eine Einbürgerung wollen alle den gleichen roten Pass. Aber was sie dafür mitbringen müssen, hängt ganz von ihrem Wohnort ab. Was viel mit dem dreistufigen Schweizer Bürgerrecht zu tun hat: Gemeinde, Kanton, Bund – alle drei Ebenen sind involviert.
Früher wurden Zwangseinbürgerungen diskutiert
«Der Bund legt die zentralen Bedingungen fest», sagt Christin Achermann (47), Professorin für Migration, Recht und Gesellschaft an der Universität Neuenburg. «Aber die Kantone und Gemeinden haben grossen Ermessensspielraum bei der Umsetzung dieser Bedingungen. Entsprechend gross sind die Unterschiede.»
25 Prozent aller Menschen, die in der Schweiz leben, haben einen ausländischen Pass.«Das Schweizer Einbürgerungssystem gehört zu den restriktivsten in Europa», sagt Historiker Kijan Espahangizi (44), Autor eines neuen Buchs zum Migrationskomplex der Schweiz. «Doch das war nicht immer so. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts reagierte die Schweiz auf steigende Einwanderungszahlen und dachte über mehr Einbürgerungen statt weniger nach.»
Sogar Zwangseinbürgerungen wurden damals diskutiert – nach der Devise: Das beste Mittel gegen eine hohe Ausländerquote sind Einbürgerungen!
Weiter steigender Ausländeranteil
Nach dem Zweiten Weltkrieg änderte sich das: Die hiesige Wirtschaft warb immer mehr Gastarbeiter an, von denen immer mehr blieben – gleichzeitig verschärfte die Schweiz die Einbürgerungskriterien massiv.
Der Ausländeranteil stieg von 5 auf heute 25 Prozent. «Diese Quote wird weiter steigen», sagt Espahangizi. Das führe zu einer fundamentalen Frage, die den Kern des Schweizer Selbstverständnisses betreffe: «Ab wann hört eine Demokratie auf, eine Demokratie zu sein? Bei 30, 40 oder 50 Prozent der Wohnbevölkerung ohne politische Rechte?»
Die Initiative für ein modernes Bürgerrecht legt das Augenmerk auf eine Erleichterung der Einbürgerungen durch objektive und damit berechenbare Kriterien. Was sie hingegen nicht fordert: das Ius soli, das Recht auf den Schweizer Pass für alle, die im Land geboren werden.
«Weder zeitgemäss noch zielführend»
Von bürgerlicher Seite ist Widerstand programmiert – selbst von jenen, die mit dem Anliegen der Initiative sympathisieren. So sagt Përparim Avdili (35), Präsident der FDP Stadt Zürich und Vizepräsident des Vereins Secondos Zürich: «Wie wir Einbürgerungen heute teilweise umsetzen, ist weder zeitgemäss noch zielführend.» Er sagt aber auch: «Für mich ist es nicht dasselbe, ob jemand in der Schweiz aufgewachsen ist oder als Erwachsener hierherkommt.»
Bei Menschen, die hier aufwachsen, sei es falsch, von Integration zu sprechen. «Da stehen vielmehr wir als Gesellschaft in der Pflicht», findet Avdili. Von eingewanderten Erwachsenen dürfe man aber durchaus eine Integrationsleistung erwarten. Die Initiative sieht Avdili deshalb kritisch.
Der FDP-Politiker schlägt vor, dass der Staat offensiv auf Secondos zugeht: «Wer in der Schweiz aufwächst, sollte als Kind einen Brief erhalten, der sagt: Du gehörst zu uns. Du musst nur noch Ja sagen, dann bist du Schweizer.» Das schaffe Identifikation und emotionale Bindung.
«Wer ist die Schweiz?»
Einig ist sich Avdili mit der Aktion Vierviertel, dass die Einbürgerung kein Akt der Willkür sein darf. Auch die Wohnsitzfristen der Gemeinden und Kantone seien aus der Zeit gefallen. «Wir profitieren davon, wenn die demokratische Beteiligung steigt. Diese müsste man im Gegenteil einfordern, statt sie zu verkomplizieren.»
Migrationsforscherin Christin Achermann urteilt: «Eine Annahme der Initiative wäre ein grosser Schritt für die Schweiz. Im europäischen Vergleich wäre es allerdings nichts Aussergewöhnliches.»
Der Historiker Espahangizi sieht in der Initiative die Chance für einen notwendigen Kulturwandel: «Wir müssen neu aushandeln, was es heute heisst, Schweizerin zu sein – oder anders gesagt: Wer ist die Schweiz?»