Der Sohn italienischer Gastarbeiter auf Spurensuche im Aargau
Als wir die Italiener «Tschinggen» schimpften

Der italienische Journalist Concetto Vecchio (49) hat eine Geschichte über die Migration seiner Eltern in den Aargau geschrieben. Es ist ein Rückblick in eine unschöne Vergangenheit, welche die Schweiz bis heute prägt. Aber es ist auch eine Liebeserklärung.
Publiziert: 25.04.2020 um 14:11 Uhr
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Aktualisiert: 30.04.2020 um 10:12 Uhr
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Concetto Vecchio (50) wurde in Aarau als Kind italienischen Gastarbeiter geboren. Er lebte bis zum 14. Lebensjahr im Aargau.
Foto: ZVG

«Warum willst du über mich schreiben? Wen soll das interessieren?», fragte die Mutter. «Mich interessiert es», sagt der Sohn. Das war nicht die Wahrheit. Interessiert hat die Emigration seiner sizilianischen Eltern in die Schweiz sehr viele Menschen – Italiener und Schweizer. Sieben Mal musste das Buch bereits nachgedruckt werden.

Dabei spielte die Schweiz in Concetta Vecchios (49) Leben kaum eine Rolle mehr. Er lebt in Rom, ist verheiratet, hat zwei Kinder und arbeitet als Journalist bei der Tageszeitung «La Repubblica». Die Schweiz? Weit weg. In Aarau geboren und in Lenzburg AG aufgewachsen, ist er 1985 mit seinen Eltern im Alter von 14 Jahren nach Sizilien zurückgekehrt. Seine Schulgschpänli fragten damals: «Für immer?» Für immer. Dass der FC Aarau einen Monat später Cupsieger wurde, erfuhr Vecchio erst zwei Tage danach in einer kleinen Zeitungsnotiz. Kein Spiel seiner Lieblingsmannschaft hatte er in den sechs Jahren zuvor verpasst. «Ausgerechnet beim grossen Triumph war ich nicht dabei», sagt er während des Telefongesprächs vergangene Woche.

FC-Aarau-Fan ist Vecchio noch immer. Doch eben, die Schweiz, die vergass er. Bis er sich vor zwei Jahren fragte, was das wohl für eine Zeit war, als seine Eltern in den Kanton Aargau kamen. Beschämend sei es, sagt Vecchio, dass er die Geschichte seiner Eltern nicht kannte. Er erinnert sich aber, wie ihn seine Mutter damals vom Kindergarten abholte, er auf dem Heimweg mit Hilfe von Plakaten Lesen übte. Als er jubelte, weil er etwas verstand, schauten die alten Leute auf der Strasse streng. Seine Mutter sagte: «Pssst, sonst holt dich der Schwarzenbach.»

Von Heimweh geplagt

Vecchios Vater Melo wuchs in Sizilien auf. Seine Familie war arm. Er macht eine Lehre als Möbelschreiner. Fand dank seines Talents Arbeit in der sizilianischen Stadt Catania. Mit 20 Jahren verlor er seinen Job und fand keinen neuen mehr. Die Möbel aus der Schreinerei von Melo waren nicht mehr gefragt – im Norden gab es nun industrielle Möbelproduktion. Auf der Suche nach Arbeit zogen alle jungen Männer aus Melos Dorf in die Fremde. Melo wollte nicht in die Schweiz. 1962 stieg er trotzdem in den Zug. Weil er keine Arbeit fand. Die Reise brachte ihn nach Lenzburg. Rasch fand er bei der Firma Thut in Möriken AG eine Stelle. Am Heimweh der darauffolgenden Jahre verzweifelte er fast.

Vecchios Mutter kam im Alter von 19 Jahren in die Schweiz. Die gelernte Schneiderin Pippa fand in der Kartonage-Fabrik Zeiler in Lenzburg Arbeit. Sie lernte Melo kennen. Die Hochzeitsreise führte nach Rom.

Vecchios Eltern und all die anderen Gastarbeiter waren in der Schweiz einzig zum Arbeiten geduldet. Ihre Familien durften die Italiener nicht mitbringen. Gelebt haben sie in Baracken. Vecchio hat sich in Film-Aufzeichnungen angehört, was Schweizer damals über Menschen wie seine Eltern sagten: «Sie kommen nie einzeln, sie kommen immer gruppenweise.» – «Sie sind eine Gefahr für die Schweiz. Sie haben hohe Löhne, sie konsumieren einfach zu viel. In der Migros sah ich einmal einen Italiener, ich sah es mit meinen eigenen Augen, 27 Tafeln Schokolade hat er gekauft. Es gibt Hunderte, die das machen! Sie haben einfach unglaubliche Ansprüche.» – «Wenn man eine Tochter hat, die 16 oder 17 ist, dann ist man gefährdet. Man muss Angst haben.»

Wenn Vecchio seine heute 79-jährige Mutter über die Zeit in der Schweiz befragt, sagt sie stets: «Era così.» Das sei damals wie heute die typische Antwort armer Menschen, sagt Vecchio. Es ist ihre Art, mit dem eigenen Schicksal umzugehen, zu sagen: So war das eben.

Fremdenfeindlichkeit trotz Vollbeschäftigung

Fasziniert hat Vecchio auch James Schwarzbach, der 1968 eine Ausschaffungs-Initiative lancierte mit dem Ziel, 300'000 vorwiegend italienische Gastarbeiter zurückzuschaffen. An der Urne 1970 stimmten 46 Prozent der Schweizer Männer für seine fremdenfeindliche Initiative. Vecchio sagt: «Ich könnte es verstehen, wenn es damals in der Schweiz 20 Prozent Arbeitslose gegeben hätte. Aber es gab keine Arbeitslosen. Keinen einzigen!»

Vecchio versucht zu verstehen, warum Schwarzenbach trotzdem so erfolgreich war. «Schwarzenbach, dieser seltsame Typ», wie er sagt. Der ein Intellektueller war, fünf Sprachen beherrschte, nie arbeiten musste fürs Geld und es doch schaffte, das Volk hinter sich zu scharen. Die Antworten darauf seien hochaktuell: «Schwarzenbach sagte Dinge, die auch heutige Populisten sagen.» Er sei kein Rassist, er setze sich einfach für die Schweizer Identität ein beispielsweise. «Schwarzbach war ein Vorreiter. Er machte den Fremdenhass salonfähig.»

Sein Buch, das letztes Jahr auf Italienisch erschien und nun in deutscher Fassung vorliegt, ist aber keine Abrechnung mit der Schweiz. Es war der wachsende Rassismus in Italien, der ihn dazu veranlasste, seine Landsleute daran zu erinnern, dass seit 1860 mehr als 30 Millionen Italiener ausgewandert sind. «Einst waren wir die Migranten.»

2019 aber war es Italiens damaliger Innenminister Matteo Salvini, der gegen Migranten wetterte und keine Flüchtlingsboote in italienische Häfen einlaufen liess. «Migration ist eine enorme Herausforderung. Aber ich habe Angst vor Menschen, die dieser Herausforderung mit einem Slogan begegnen. Wir dürfen nie vergessen, dass wir Mensch sein müssen gegenüber diesen Menschen. Das haben wir in Italien in dieser populistischen Zeit unter Salvini leider vergessen.»

Alle waren da

Für Schweizer ist die Zeit zwischen 1960 und 1979 beschämend. So gingen wir mit den Italienern um? Wirklich? Mit unseren Italienern?

Sowohl Italiener wie auch Schweizer verdrängen diese Zeit. Es gibt einen Grund: «Diese Geschichte endet gut», sagt Vecchio. Alle seine italienischen Klassenkameraden aus Lenzburg sind heute Schweizer. Die zweite Generation feiert am 1. August mit der Schweizerfahne.

Als Vecchio im vergangenen Jahr eine Lesetour in der Schweiz machte, begleitete ihn seine Familie. 400 Leute warteten in Lenzburg auf den Autor. «Mamma mia!», rief seine Mutter Pippa aus, als sie den Saal betraten. Vecchio sagt: «Da waren meine Primarschullehrer, Leute, mit denen ich beim FC Lenzburg Fussball gespielt habe, ehemalige Nachbarn aus dem Block in Staufen, Klassenkameraden. Alle waren da! Unvorstellbar diese Emotionen!»

«Papi, jetzt beruhige dich wieder»

Am nächsten Tag fuhr Vecchio mit der ganzen Familie nach Zürich. Sie spazierten am See. Seine Mutter wollte unbedingt eine Bratwurst essen. Sie, die am liebsten gar nie nach Sizilien zurückgekehrt wäre, schwelgte in Erinnerungen. Vecchios Vater blieb dagegen ziemlich emotionslos.

Vecchio selber war ebenfalls voller Enthusiasmus. «Ich spürte, dass ich hier zu Hause bin, dass es meine Heimat ist. Die Schweiz, Zürich! Seine 18-jährige Tochter sagte irgendwann: «Papi, jetzt beruhige dich mal wieder!» Zürich sei durchaus ein schönes Städtchen. Aber, was er hier so Spezielles sehe, begreife sie nicht.

Concetto Vecchio: «Jagt sie weg. Die Schwarzenbach-Initiative und die italienischen Migranten», Orell Füssli

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