Die Kirschblütengemeinschaft aus dem Solothurnischen beschäftigt seit langem Behörden, Gerichte und Medien. Mal geht es um Tantra-Sessions, mal um Drogen und ihre umstrittene Psychotherapie. Nun haben ihre Anhänger ein neues Feld entdeckt: ADHS und die Autismus-Spektrum-Störungen.
Zuchwil SO, Zuchwilstrasse 7. Die Fassade ist verwittert, der ganze Bau in die Jahre gekommen, die Lage perfekt: Fünf Gehminuten sind es nur bis zum Bahnhof Solothurn. Hier hat sich vor kurzem das Prisma-Zentrum für Neurodiversität und Lebenskunst eingemietet. Menschen mit ADHS und einer Autismus-Spektrum-Störung ab 16 Jahren sollen Abklärung, Diagnose und Coaching erhalten, Angehörige Hilfe und Fachleute eine Weiterbildung.
Der innere Zirkel der Kirschblütler
Das richtige Angebot zur richtigen Zeit – könnte man meinen. ADHS-Betroffene müssen bis zu einem Jahr auf einen Abklärungstermin warten, wie Blick berichtete. Diesen «echten Missstand» wollen die Prisma-Betreibenden mithelfen zu beheben, schreiben sie auf Anfrage. Ein Blick auf die Website zeigt jedoch: Im Prisma-Zentrum praktiziert das Who is who der Kirschblütengemeinschaft. Darunter Danièle Nicolet und Marianne Principi aus dem innersten Zirkel um die Gründerfigur Samuel Widmer (1948–2017) sowie seine Tochter.
Die Kirschblütler zählen rund 200 Anhänger, darunter auch Kinder und Jugendliche. Ihr Hauptquartier ist ein ehemaliger Bauernhof in Lüsslingen-Nennigkofen SO. Dort veranstalten sie Gruppentherapien und Kongresse zu Themen wie dem Inzesttabu in der Therapie. Am letztjährigen Kongress sprach eine Psychiaterin, die im Prisma-Zentrum tätig ist, zudem über «MDMA, LSD, Meskalin und Psilocybin», wie in einem Video auf der Kirschblüten-Website zu sehen ist. Solche Drogentherapien wären illegal.
Kein Wort darüber, woher sie kommen
Wer sich die Prisma-Website anschaut, ahnt von all dem nichts. Die Betreibenden legen ihre Verbindung zur Kirschblütengemeinschaft nicht offen. Kirschblüte – das Wort fällt nicht ein einziges Mal. Zwei Sekten-Fachstellen kritisieren das gegenüber Blick. Für Julia Sulzmann, stellvertretende Leiterin von Relinfo, ist genau das, die «mangelnde Transparenz», das Hauptproblem. Die Menschen hinter dem Prisma-Zentrum gehörten zu einer weltanschaulichen Gruppierung, die «zu Recht stark kontrovers diskutiert» werde. «Wenn sie das bewusst nicht preisgeben, ist das für Betroffene und Angehörige problematisch», sagt sie. Eltern könnten auf einmal mit einem jugendlichen Kind konfrontiert sein, das mit völlig veränderten Ansichten nach Hause komme.
Susanne Schaaf, Geschäftsleiterin von Infosekta, hat ähnliche Bedenken. Menschen in solchen sektenhaften Gemeinschaften identifizierten sich oft übermässig mit einer Weltanschauung, sagt sie. Typisch dafür sei, dass es ihnen kaum gelinge, die Perspektive zu wechseln. Und zwischen privater und beruflicher Rolle zu trennen. Für sie ist eine Frage entscheidend: Wie kann man sicher sein, dass das Gedankengut der Kirschblütler nicht in die Beratung einfliesst? «Sie nehme an, dass Fachpersonen, die sich dem Kirschblüten-Konzept verbunden fühlten, die Aspekte schrittweise in die therapeutische Beziehung einfliessen liessen», sagt sie. Eine Beeinflussung wäre somit für die Klientinnen und Klienten nicht auf den ersten Blick erkennbar.
Solothurner Politik wird aktiv
In Solothurn schaltet sich nun die Politik ein. Der Grünen-Kantonsrat Christof Schauwecker hat vergangene Woche zuhanden der Kantonsregierung eine Anfrage eingereicht. Er will wissen, ob das Angebot des Prisma-Zentrums überprüft und zugelassen ist, ob der Kanton dieses finanziell oder sonst wie unterstützt und was die Regierung unternimmt, um die Bevölkerung, insbesondere vulnerable Bevölkerungsgruppen, vor den Aktivitäten von Sekten und sektenähnlichen Gruppierungen zu schützen.
Schauwecker fürchtet, dass das Prisma-Zentrum «die neue Masche der Kirschblütler» sei, «um an Leute heranzukommen», sagt er gegenüber Blick. Und kritisiert die Behörden: «Der Kanton verhält sich wie die drei Affen: nichts Böses sehen, nichts Böses hören und nichts Böses sagen.»
Schon lange ist die von Ärzten und Ärztinnen aus dem Umfeld der Kirschblütengemeinschaft propagierte «echte» und «psycholytische» Psychotherapie stark umstritten. 2015 schlich sich ein ARD-Reporter undercover in ein Seminar in Lüsslingen-Nennigkofen und schmuggelte Kapseln raus, die man ihm dort gegeben hatte. Ein Labortest erfasste Meskalin, ein Halluzinogen, das in verschiedenen Kaktusarten vorkommt. Wenig später kam ein Zehnjähriger aus dem Kirschblütenumfeld mit einer LSD-Vergiftung ins Spital. Er habe Kopfweh gehabt und daheim eine Tablette geschluckt, erklärte er später. Infosekta vermittelte zudem der Staatsanwaltschaft zwei Zeuginnen, die zu ihren Erlebnissen von Tantra-Sitzungen unter Drogeneinfluss aussagen wollten. Samuel Widmer und seine Lebensgefährtinnen bestritten diese Schilderungen.
Das Verfahren lief ins Leere
Sowohl die Staatsanwaltschaft als auch die Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie des Kantons Solothurn (GPPSo) wurden aktiv, jedoch ohne Konsequenzen. Einzig das Bundesamt für Gesundheit (BAG) bremste die Kirschblütler: Seit 2021 müssen Krankenkassen die Kosten der «Echten Psychotherapie» der Kirschblüten-Anhänger nicht mehr übernehmen. Gegenüber Blick betonen die Prisma-Betreibenden, dass die Vorwürfe punkto Drogentherapie Jahre zurückliegen und von den Behörden «als unbegründet niedergelegt» wurden. «Am Prisma-Zentrum für Neurodiversität und Lebenskunst wird keine psycholytische Therapie angeboten.»
Prisma-Geschäftsführerin Rahel Nicolet schreibt: «Das Prisma-Zentrum ist kein Projekt der Kirschblütengemeinschaft.» Sondern eine Initiative einiger weniger Individuen. Sie verträten eine wertneutrale Haltung. Wie jede andere Fachperson würden sie bewusst Privatleben von professioneller Rolle trennen. Sie reflektierten ausserdem regelmässig ihr Verhalten und ihre Einstellungen durch Supervision und interkollegialen Austausch. «Aus all diesen Gründen finden wir das Erwähnen einer persönlichen Lebensgestaltung auf der Prisma-Website als unangebracht.»