Donnerstag vor einer Woche im Bundeshaus. Es ist Session. Jonathan Kreutner (45) sitzt mit dunkler Brille und glatt gebügeltem Anzug auf der Zuschauertribüne. Er guckt gebannt in den Ratssaal hinunter, als plötzlich ein Uniformierter neben ihm steht. Der Ton ist rau, der Blick unfreundlich. Der Mann will von Kreutner das Ticket sehen, das bescheinigt, dass er hier oben sein darf. Kreutner hat keines, der Uniformierte führt ihn nach draussen. Wie ein Eindringling, der sich hierher geschlichen hat. Doch Kreutner bleibt ruhig und freundlich, macht ein paar Anrufe und wartet auf die Erlaubnis. Schliesslich ist er auf Bitte von Bundesrätin Elisabeth Baume-Schneider auf die Tribüne gekommen.
Jonathan Kreutner ist seit 15 Jahren Generalsekretär des Schweizerischen Israelitischen Gemeindebunds (SIG) – die wichtigste Stimme der rund 18'000 Jüdinnen und Juden in der Schweiz. Und dieser erlebt schwierige Zeiten. Kreutner sagt: «So gefordert waren wir noch nie.» Der Terroranschlag der Hamas auf Israel am 7. Oktober legte den Boden. Die Zahl der Angriffe auf Juden in der Schweiz ist seither explodiert. 155 Vorfälle in der realen Welt gingen beim SIG vergangenes Jahr ein – im Vorjahr waren es 57. Drei Viertel davon geschahen nach Kriegsausbruch. Und nun, am 2. März, versuchte ein Muslim in Zürich einen Juden zu töten. Der Antisemitismus in der Schweiz hat eine ganz neue Dimension erreicht.
All das sickert in der Politik durch. Ein Verbot von Nazisymbolen, ein Verbot der Hamas – lange liefen der SIG und Jonathan Kreutner, der einen Badge fürs Bundeshaus hat, mit diesen Anliegen auf. Auch mit dem Wunsch nach einer nationalen Antisemitismusstrategie. Seit dem 7. Oktober ändert sich das. Vor zwei Jahren war der Bundesrat noch gegen eine Motion, die das forderte. Jetzt nicht mehr. An jenem Donnerstagmorgen stimmt der Nationalrat darüber ab. Deshalb ist Kreutner um halb sechs Uhr aufgestanden und von Zürich nach Bern gefahren, er sagt: «Ich will bei dieser Sache Präsenz markieren.»
Jetzt nimmt man sie ernst
Zwei Stunden vor der Abstimmung steht er in der Wandelhalle vor dem Ratssaal. Nationalrätinnen und -räte brüten an kleinen Pulten über Papierbergen und tippen hektisch auf Laptoptastaturen herum, bevor sie wieder für eine Abstimmung aufspringen und in den Saal rennen. Kreutner setzt sich mit Einzelnen an einen Tisch, gesellt sich zu ihnen auf die Raucherterrasse oder bespricht sich mit Journalistinnen, erklärt druckreif seine Argumente, bringt oft nicht einmal einen Satz zu Ende, weil ständig sein Handy klingelt. Ein Anruf kommt überraschend. Bundesrätin Baume-Schneider wird nachher im Ratssaal für die nationale Antisemitismusstrategie votieren und will zum Auftakt einen Vertreter des SIG willkommen heissen. Kreutner soll auf die Tribüne, sagt die Person am Telefon. Kreutner legt auf und wirkt leicht aufgekratzt, sagt: «Dass der SIG im Nationalratssaal begrüsst wird, habe ich noch nie erlebt.»
Gerade zeichnet sich ein neuer Umgang mit der jüdischen Gemeinschaft in unserem Land ab. Ein neues Ernstnehmen. Islamistischer Terror galt bis vor kurzem als ein Ausland-Phänomen. Spätestens jetzt ist allen klar: Die Schweiz ist kein Sonderfall.
All das ist so neu, dass ein Uniformierter im Bundeshaus den SIG-Generalsekretär von der Zuschauertribüne wirft. Für kurze Zeit zumindest. Bei der Abstimmung kurz vor dem Mittag sitzt Kreutner wieder auf der Empore und nimmt Baume-Schneiders Gruss entgegen. Ein historischer Moment. Dass gerade er Teil davon ist, ist kein Zufall.
Der grösste jüdische Verband in der Schweiz steht mehr denn je im Fokus. Der Hamas-Überfall, der Antisemitismus-Eklat in Davos und ein Schwall von Angriffen auf jüdische Menschen – noch nie musste der SIG so stark für die jüdische Gemeinschaft einstehen wie seit dem 7. Oktober. Noch nie prasselten so viele Medienanfragen auf den Verband nieder. Drei pro Tag sind es derzeit aus aller Welt, zuvor waren es zwanzig im Monat. Kreutner ist der Mann, der vor die Mikrofone steht und aufklärt. Der Mann der Stunde. Wir haben ihn an zwei Tagen begleitet und wollten wissen: Was treibt diesen Menschen an? Wie ist es, im Dauereinsatz für die eigene Community zu stehen? Einblick gibt das Geschehen rund um den Messerangriff vor zwei Wochen.
An jenem Samstagabend war Jonathan Kreutner gerade mit seiner Familie von einem Essen nach Hause gekommen, als er die Nachricht erhielt: Ein 15-Jähriger hatte einen jüdisch-orthodoxen Mann niedergestochen, im Zürcher Kreis 2 nahe einer Synagoge. Später sagten Zeugen, der Täter habe gerufen: «Ich bin Schweizer. Ich bin Muslim. Ich bin hier, um Juden zu töten.» Doch das wusste Kreutner in jener Nacht nicht. Nicht mit Sicherheit. Es hätte auch ein Raubüberfall sein können, sagt er. «Wir müssen immer vorsichtig sein und dürfen innerhalb der Gemeinschaft keine Panik schüren.» Daran hielt sich sein Team in der ersten nächtlichen Mitteilung. Doch er selbst war alarmiert. Die dunklen Gedanken an das, was sich am Sonntag bestätigte, hielten ihn bis zum Morgen wach: ein islamistisch motivierter Terrorangriff.
Am Montag darauf trat er zusammen mit dem Zürcher Regierungspräsidenten Mario Fehr vor die Medien, der den Angriff als das einordnete. Kreutner musste sich nicht mehr zurückhalten, er wählte deutliche Worte, sprach von einem «der schwersten Hassverbrechen, das in der Schweiz jemals passiert ist». Und signalisierte, dass die jüdische Gemeinschaft sich nicht einschüchtern lässt: «Wir werden uns nicht verstecken, sonst haben die Terroristen ihr Ziel erreicht.»
Erinnerungen an die belastete Vergangenheit
Jonathan Kreutner ist nicht nur ein Funktionär. Er ist persönlich betroffen. Der Täter schlug einen Kilometer entfernt von seinem Büro, von seinem Zuhause, von der jüdischen Kita und dem Kindergarten seiner Töchter zu. Im Herzen der jüdischen Gemeinschaft. Kreutner, der bislang nie heftig antisemitisch angefeindet worden ist, schaut sich nun um, bevor er auf sein Velo steigt. Er sagt: «Es ist auch traumatisch für mich.» Er denke mehr als sonst an seine Herkunftsgeschichte.
Jonathan Kreutner gibt es heute wohl nur, weil seine Grosseltern viel Glück hatten. Und weil ein Grenzwächter sich erbarmte. Während der Reichspogromnacht im November 1938 schlugen Nazi-Schergen in Wien seinen Grossvater zusammen. Dieser überlebte, packte in den Tagen danach Ehefrau und Baby – Kreutners Vater – und flüchtete verletzt zu Fuss Richtung Schweizer Grenze, wo sie versuchten, den eiskalten Rhein zu überqueren. Das Baby fiel ins Wasser und trug einen Hörschaden davon. Als ein Schweizer Grenzbeamter sie dann wegweisen wollte, sagte die Grossmutter diesen Satz, den die Familie verinnerlicht habe, sagt Kreutner: «Wenn ihr mich zurückschickt, könnt ihr mich gleich erschiessen.» Der Beamte hatte Mitleid und brachte die Familie bei sich daheim unter. Der berühmte Polizeihauptmann Paul Grüninger (1891–1972) liess ihn gewähren. Auch die Eltern von Kreutners Mutter konnten von Polen nach Israel fliehen, weshalb Hebräisch zu seiner zweiten Muttersprache gehört. Die Urgrosseltern hingegen waren verloren, die Nazis ermordeten jeden Einzelnen von ihnen.
All ihre Geschichten hallen in Jonathan Kreutner nach. Er sagt: «Ich denke im ersten Moment oft gleich an das Schlimme.» Ein grundlegender Pessimismus, in den sich aber immer auch wieder Hoffnung einfädle. Nicht zuletzt auch, weil ihm die Geschichte seiner Vorfahren noch etwas anderes vergegenwärtigt: wie bedeutend Familie ist. Auch deshalb mache er seinen Job, sagt er: «Für meine Kinder und meine Frau.»
An einem Samstag sitzen wir bei ihm und Ehefrau Nicole (40), die als Journalistin arbeitet, daheim am Zmorge-Tisch und trinken Kaffee. Kreutner, jetzt in Pullover und Jeans, spielt mit den Töchtern (2 und 6) auf dem Wohnzimmerboden. Nicole war vorhin einkaufen. Sie fährt durch ihr dunkelbraunes Haar und erklärt: «Wir sind nicht ‹Shomer Shabbat›.» Sie halten keinen Schabbat, der, wenn man ihn streng befolgt, ein Ruhetag ist, an dem die Gläubigen keine neue Situation schaffen dürfen. Nicht durch Autofahren, Kochen, Liftfahren und andere Tätigkeiten. Sie seien nicht religiös, sagt Nicole, doch pflegten sie jüdische Traditionen. Sie feiern die Festtage. Und sie kommen am Freitagabend jeweils mit ihren oder seinen Eltern zum Essen zusammen. Jonathan Kreutner sagt: «Vielen jüdischen Menschen sind ihre Wurzeln wichtig.»
Alle Generationen von Jüdinnen und Juden machten die Erfahrung von Ausgrenzung und Vertreibung. Zu wissen, zu wem man gehört, wer die eigenen Vorfahren sind, war überlebenswichtig. Bis heute stiftet es Identität. Treffe man sich, sagt Kreutner, komme es häufig vor, dass man einander nach dem Ledignamen der Grossmutter oder dem Geburtsort der Urgrossmutter frage, um den anderen einordnen zu können und zu schauen, ob man verwandt sei.
Kreutner hat Geschichte studiert und in jüdischen Studien doktoriert, er interessiert sich vielleicht mehr als andere dafür, wie alles begann. Er zeigt auf einen dicken Wälzer im Regal an der Wand, «The Unbroken Chain». Das Buch zeichnet die Stammbäume vieler osteuropäischer Juden der letzten 500 Jahre nach. Er sagt: «Da drin steht auch meine Familiengeschichte.» Seine Töchter fügen dieser nun das nächste Kapitel hinzu. Ihre Kinder sollen einst das Gleiche tun. Es soll weitergehen. The Unbroken Chain – die Kette, die nicht reisst. Dass das nicht selbstverständlich ist, hat die Geschichte der Juden oft genug gezeigt. Auch deshalb gibt Jonathan Kreutner in seinem Job so viel von sich.
Er ist der Seismograf für Antisemitismus
Die älteste Tochter sitzt mit ihrem Vater auf der Couch, ihr Kopf ruht auf seiner Schulter, sie schauen sich ein Fotoalbum an. Ihre Standardantwort auf die Frage, was Papas Job ist, lautet: «Am Handy sii.»
Jonathan Kreutner ist zu einer Art Seismograf für Antisemitismus geworden. Anhand seiner Arbeitslast kann man ablesen, wie es der jüdischen Gemeinschaft in der Schweiz geht. Seit Kriegsausbruch ist er pausenlos am Telefon. Hunderte von Mails von Menschen, die etwas von ihm wollen, fluten jeden Tag seine Mailbox. Er legt sie alle fein säuberlich in Unterordnern ab und arbeitet sie später bis in die Nacht hinein ab. Kaum ein Arbeitstag endet nach zwölf Stunden. Deshalb hetzt er oft auch bei jedem Wetter mit dem Velo von Termin zu Termin – mit Tram und Bus würde er zu viel Zeit verlieren.
All das drängt sich auch in sein Zuhause. Ehefrau Nicole sagt, ihr Mann habe mehr Mühe, abzuschalten. «Er ist nervöser und kribbeliger als sonst.» Was den Druck erhöht: die Sorge um die Töchter.
Wie alle jüdischen Kinder müssen sie derzeit mit Dingen fertigwerden, mit denen selbst Erwachsene überfordert sind. Abends geht die Älteste zur Wohnungstür und schaut, ob diese abgeschlossen ist. Im Sommer wechselt sie nun vom Kindergarten an eine jüdische Schule. Das war nicht immer klar. Doch, sagt Mutter Nicole, angesichts der aktuellen Situation sei ihnen der Entscheid leichter gefallen.
Über all dem gibt es für Jonathan Kreutner immer wieder lichte Momente. Hoffnung. Er sagt: «Ich ziehe viel Sinnhaftigkeit aus meinem Job.» Besonders, wenn er etwas bewegen kann. Das zeigt sich an jenem Donnerstag im Bundeshaus, als der Nationalrat die nationale Antisemitismusstrategie behandelt.
Die SVP stellt sich dagegen, ihre Politiker wechseln sich während der Debatte am Rednerpult ab. Andreas Glarner bringt ihre Haltung so auf den Punkt: Antisemitismus kommt von den Linken mit «Arafat-Tüchern und Che-Guevara-Shirts» und den «militanten Muslimen», die die Schweiz ins Land gelassen habe.
Kreutner hört ihm von der Tribüne mit unbewegter Miene zu, später sagt er: «Das hat mich richtig gestresst.» Ihn ärgert, dass Angriffe auf jüdische Menschen nun für politische Zwecke missbraucht würden. Das lenke ab, sagt er. Antisemitismus wuchere in der Mitte der Gesellschaft, nicht nur innerhalb einzelner Gruppen. «Das macht ihn so unberechenbar.»
Der Nationalrat nimmt die nationale Antisemitismusstragie an jenem Tag mit 125 Stimmen an. Nun kommt der Ständerat dran. Doch schon jetzt ist es ein Erfolg für Jonathan Kreutner, für die jüdische Gemeinschaft: Sie finden endlich mehr Gehör. Lange auskosten kann er den Moment nicht, er muss zurück nach Zürich, er hat einen langen Tag vor sich und eine kurze Nacht. So geht es immer weiter. Muss. So steht es auf dem Buch bei Kreutner daheim geschrieben: «The Unbroken Chain». Keine jüdische Generation soll die letzte sein.
Vergangene Woche nahm der Schweizerische Israelitische Gemeindebund (SIG) in Wien den Hauptpreis des Simon-Wiesenthal-Preises 2023 in Empfang. Dies für dessen langjähriges Dialog- und Aufklärungsprogramm «Likrat». Jüdinnen und Juden gehen dabei in Schulklassen und klären auf, mit dem Ziel, antisemitische und antijüdische Stereotype aufzulösen. Darum geht es bei dem mit 15'000 Euro dotierten Preis: Projekte gegen Antisemitismus zu würdigen. «Likrat» setzte sich gegen 200 Bewerbungen aus 30 Ländern durch. Den Ausschlag gab laut der Jury «der spürbare Beitrag junger Jüdinnen und Juden im Kampf gegen Antisemitismus». Der Preis ist dem Andenken an den österreichisch-jüdischen Architekten und Schriftsteller Simon Wiesenthal (1908–2005) gewidmet. Er prägte die weltweite Aufarbeitung der Verbrechen des Nationalsozialismus.
Vergangene Woche nahm der Schweizerische Israelitische Gemeindebund (SIG) in Wien den Hauptpreis des Simon-Wiesenthal-Preises 2023 in Empfang. Dies für dessen langjähriges Dialog- und Aufklärungsprogramm «Likrat». Jüdinnen und Juden gehen dabei in Schulklassen und klären auf, mit dem Ziel, antisemitische und antijüdische Stereotype aufzulösen. Darum geht es bei dem mit 15'000 Euro dotierten Preis: Projekte gegen Antisemitismus zu würdigen. «Likrat» setzte sich gegen 200 Bewerbungen aus 30 Ländern durch. Den Ausschlag gab laut der Jury «der spürbare Beitrag junger Jüdinnen und Juden im Kampf gegen Antisemitismus». Der Preis ist dem Andenken an den österreichisch-jüdischen Architekten und Schriftsteller Simon Wiesenthal (1908–2005) gewidmet. Er prägte die weltweite Aufarbeitung der Verbrechen des Nationalsozialismus.