Bis zu ein Jahr Wartezeit
Rekordhoher Ansturm auf ADHS-Abklärungen

In der Schweiz erreichen die Wartezeiten für ADHS-Abklärungen neue Höchstwerte. Betroffene müssen bis zu ein Jahr lang warten, einzelne Praxen nehmen gar niemanden mehr auf. Was sind die Gründe?
Publiziert: 24.03.2024 um 16:54 Uhr
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Aktualisiert: 24.03.2024 um 18:10 Uhr
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Susanne Walitza, Direktorin der Kinder- und Jugendpsychiatrie an der PUK Zürich, stellt eine sehr grosse Nachfrage nach ADHS-Abklärungen fest.
Foto: Zvg
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Lisa AeschlimannReporterin & Blattmacherin

Wer Glück hat, bekommt innert sechs Monaten einen. Wer Pech hat, erst in einem Jahr: den Termin für die ADHS-Abklärung. In der Schweiz haben Wartezeiten für die Abklärungen einer Aufmerksamkeitsdefizit- und Hyperaktivitätsstörung (ADHS) einen neuen Höchststand erreicht. Das zeigt eine Blick-Umfrage.

Die Kinder- und Jugendpsychiatrie der Psychiatrischen Universitätsklinik (PUK) in Zürich, eine der grössten Kliniken, spricht von sehr grosser Nachfrage. Wer nicht als Notfall eingestuft wird, muss aktuell bis zu neun Monate auf einen Termin warten. Um die Wartezeit zu überbrücken, bietet die PUK Zürich seit Januar Online-Gesprächsgruppen für Jugendliche an.

In Basel und im Aargau tönt es ähnlich. Bei den Psychiatrischen Diensten Aargau (PDAG) beträgt die Wartezeit für Erwachsene neun Monate, «Tendenz steigend». Bei Kindern und Jugendlichen haben sich die Anmeldezahlen in den Ambulatorien in den letzten sieben Jahren «mehr als verdoppelt», wie der leitende Arzt Rainer Kment schreibt.

Einige Praxen haben sogar Aufnahmestopps verhängt. BrainArc, eine grössere spezialisierte Zürcher Praxis, nimmt seit November keine neuen Patientinnen und Patienten mehr auf. Zuletzt habe die Wartefrist zehn bis zwölf Monate betragen. Trotz Aufnahmestopp – der auf der Website prominent vermerkt ist – gebe es täglich etwa zehn Anfragen. Auch in der Spezialklinik Psybern herrscht Aufnahmestopp.

Dutzende Hilferufe pro Tag

Die ADHS-Organisation Elpos Schweiz erreichen täglich Dutzende Anfragen nach Adressen, wo man Hilfe bekommen könne. Doch freie Terminen sind überall rar. Elpos Schweiz meldet, dass ein halbes oder ganzes Jahr Wartezeit mittlerweile normal sei. Zur Überbrückung verweist die Organisation Hilfesuchende an Selbsthilfegruppen, die sie aufgebaut hat und ehrenamtlich betreibt.

Klar ist: Das Bewusstsein für die Krankheit hat zuletzt deutlich zugenommen – in Fachkreisen wie in der Bevölkerung. «ADHS ist längst in unserer Gesellschaft angekommen», schreibt Susanne Walitza, Direktorin der Kinder- und Jugendpsychiatrie an der PUK Zürich, Lehrpersonen und Eltern seien dafür sensibilisiert. Evelyn Herbrecht, Chefärztin an den Universitären Psychiatrischen Kliniken in Basel, sagt, nicht nur das Bewusstsein für psychische Störungen sei gestiegen, auch die Zuweisung durch Schulen und Eltern erfolge schneller. Auffallend ist, dass die Patientinnen und Patienten in der Kinder- und Jugendpsychiatrie jünger werden. Walitza: «Wir haben mehr Vorschulkinder in der Abklärung als noch vor Jahren.»

Zunehmender Leistungsdruck und Reizüberflutung

Die grössere Sensibilisierung ist nur ein Grund für den Ansturm auf ADHS-Abklärungen. Auch der zunehmende Leistungsdruck und die Reizüberflutung durch Social Media spielten eine Rolle, berichten mehrere Expertinnen. Walitza schreibt von einer Zunahme des pathologischen Medienkonsums bei Kindern und Jugendlichen.

Kment aus dem Aargau schreibt: «Junge Menschen sind in unserer schnelllebigen, digitalisierten Welt vielen äusseren Reizen ausgesetzt.» Von ihnen werde hohe Anpassungsfähigkeit verlangt. Kinder und Jugendliche mit ADHS fielen aus der Norm, da es ihnen kaum gelinge, den steigenden Anforderungen in Schule und Familie zu genügen.

Viel mehr Studierende betroffen

Bemerkenswert ist ebenfalls, dass sich seit der Pandemie deutlich häufiger Studierende auf ADHS abklären lassen möchten. Stephan Kupferschmid, Chefarzt der Privatklinik Meiringen und Vorstandsmitglied bei der Schweizerischen Fachgesellschaft für ADHS, vermutet als Grund dafür den Digitalisierungsschub während der Pandemie: Viele Vorlesungen würden nur noch online geschaut, zudem habe auch im Studium eine Beschleunigung stattgefunden: «Die Studierenden müssen immer mehr Reize verarbeiten.» Eine Herausforderung für jene, die punkto Konzentration ohnehin nicht zu den Klassenbesten gehören.

Besonders deutlich wird der Corona-Schub bei den verkauften Medikamenten: Während 2019 rund 60'000 Personen ADHS-Medikamente erhielten, stieg ihr Anteil in den Pandemie-Jahren stark. 2023 dürften hochgerechnet mehr als 92'000 Personen Ritalin und ähnliche Präparate erhalten haben, wie eine Auswertung der Helsana im Auftrag von Blick zeigt. Zum Vergleich: Mitte der Nullerjahre gab es erst 20'000 Ritalin-Konsumierende.

Trotz Andrang in den Kliniken: Die Anzahl der ADHS-Diagnosen ist seit Jahren konstant, wie Fachpersonen betonen. Liegt die Störung vielleicht einfach nur im Trend? Hinweise darauf gibt es. Walitza schreibt, dass längst nicht bei allen, die bei sich ein ADHS vermuten, auch ein solches vorliege. Die zunehmende Anzahl von Abklärungen zeige auch, dass Fälle ohne ADHS proportional zu den Anfragen steigen würden.

Kupferschmid: «Die Inanspruchnahme ist grösser geworden.» Psychische Störungen seien nicht mehr so stigmatisiert wie früher. Manchen komme gar eine gewisse Attraktivität zu – gerade bei jüngeren Menschen, die auf Social Media freizügig von ihrer «Neurodiversität» berichten. Wichtig sei es, hier das richtige Mass zu finden: die psychische Erkrankung nicht als Entschuldigung zu gebrauchen – aber auch nicht zu stigmatisieren. Es brauche in allen Fällen eine differenzierte und professionelle Abklärung.

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