Ukrainer aus besetzten Gebieten
«Wenn der Krieg endet, will ich in der Schweiz bleiben»

Immer weniger Ukrainer sehen eine Zukunft in ihrer Heimat. Flüchtlinge wie Hanna Zaporozhets haben ihr ehemaliges Zuhause verloren. Was geschieht mit ihnen, sollte der Krieg dereinst enden?
Publiziert: 27.01.2025 um 09:30 Uhr
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Hanna Zaporozhets mit ihrer vierjährigen Tochter Valeria.
Foto: Siggi Bucher

Auf einen Blick

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«Ich will gar nicht daran denken», sagt Hanna Zaporozhets (30). Die Ukrainerin blickt zu Boden, zu ihrer Tochter Valeria (4), die Puppen in einen kleinen Koffer packt. «Ich will all das nicht noch einmal verlieren», sagt Zaporozhets und zeigt auf das Bett, den Schrank, den Tisch – alles, was die alleinerziehende Mutter besitzt, steht in diesem Zimmer in einem kantonalen Flüchtlingsheim in Zug. 

Weit weg von hier, auf der anderen Seite des Atlantiks, ist diese Woche ein Mann in ein leicht grösseres Zimmer eingezogen – Donald Trump (78) hat das Oval Office betreten. Der Gedanke, dass ihr Schicksal nun von den Launen des neuen US-Präsidenten abhängen könnte, beunruhigt Zaporozhets. Trump hat vollmundig versprochen, den Ukraine-Krieg rasch zu beenden. Ob ihm das gelingt, ist fraglich. Wladimir Putin (72) zeigt keine Bereitschaft, von seinen Maximalforderungen abzurücken – einer Kapitulation der Kiewer Regierung. 

Sollte es dennoch zu einem Waffenstillstand kommen, scheint klar: Die Ukraine müsste vorübergehend auf Teile ihres Territoriums verzichten. Selbst Wolodimir Selenski (46) deutete dies kürzlich an, als er erklärte, diese Gebiete könnten später «diplomatisch zurückerlangt werden». Doch was passiert dann mit Menschen wie Hanna Zaporozhets, deren Häuser zerstört sind oder auf einem Gebiet liegen, das Russland besetzt hält?

Abermals bei null anfangen

Bereits 2014, als der Krieg im Donbass begann, musste Zaporozhets aus ihrer Heimatstadt Donezk fliehen. Acht Jahre lang war sie ein Flüchtling im eigenen Land. Als Russland dann 2022 zum Grossangriff überging, lebte die junge Ukrainerin in Mariupol, einer Stadt im Südosten, die gleich zu Beginn unter russisches Artilleriefeuer kam. Wieder musste Zaporozhets fliehen, diesmal wollte sie in die Schweiz flüchten, denn sie habe gehört, hier gebe es die besten Luftschutzbunker der Welt. Und nun abermals in der Ukraine bei null anfangen? Das sei keine Option mehr, sagt Zaporozhets, dafür fehle ihr die Energie. «Wenn der Krieg endet, will ich in der Schweiz bleiben.»

Noch ist unklar, was genau passiert, wenn es eines Tages so weit ist. Der Bundesrat hat 2023 ein provisorisches Rückkehrkonzept für Personen mit Status S zur Kenntnis genommen. Darin empfiehlt das Projektteam eine einheitliche Ausreisefrist von sechs bis neun Monaten, mit einigen Ausnahmen. Erwerbstätige könnten noch zwölf Monate verbleiben, Lehrlinge dürften ihre Ausbildung abschliessen. Doch das Konzept berücksichtigt kaum die Situation derer, die nirgendwohin zurückkehren können – etwa, weil ihr Zuhause auf russisch kontrolliertem Gebiet liegt.

Auf Anfrage bestätigt das Staatssekretariat für Migration (SEM), das Konzept befasse sich nicht mit «Optionen einer neuen Ukraine-Ordnung». Sollte sich das ukrainische Territorium grundlegend verändern, würde das SEM «die Veränderungen analysieren» und «im Rückkehrkonzept berücksichtigen». Bis jetzt sei das Konzept jedoch nicht überarbeitet worden. Denn: «Stand heute gibt es keine Anzeichen, dass der Krieg in der Ukraine in den nächsten Monaten beendet wird», so das SEM. 

Ein langfristiger Aufenthaltsstatus

Dass der Status S auf eine Rückkehr ausgerichtet ist, sei verständlich, sagt Ihor Puzyrov (20). «Aber wenn ich mich integriere, warum darf ich dann nicht bleiben?» Der junge Ukrainer ist vor zwei Jahren aus dem von Russland besetzten Mariupol geflohen. Heute spricht er fliessend Schweizerdeutsch, macht eine KV-Lehre in Basel und hat dort ein eigenes Zimmer gemietet. «Wenn ich meinen Beitrag leiste, können alle profitieren – die Schweiz und ich», meint er. 

Puzyrov hofft, dass sich die Schweiz ein Beispiel an Tschechien nimmt. Dort plant die Regierung, einen langfristigen Aufenthaltsstatus einzuführen – vorausgesetzt, die Ukrainer erfüllen gewisse Kriterien: mindestens zwei Jahre Aufenthalt, finanzielle Unabhängigkeit und ein sauberes Strafregister. Es ist anzunehmen, dass viele Geflüchtete den neuen Status beantragen werden. Denn immer weniger denken an eine Rückkehr. Im Herbst 2023 waren es noch 49,7 Prozent, im Frühjahr 2024 nur noch 26,2 Prozent gemäss der ukrainischen Denkfabrik Transatlantic Dialogue Center (TDC). Inzwischen dürfte die Rückkehrbereitschaft weiter abgenommen haben. 

Die ukrainische Regierung hat erkannt, dass sie zunehmend den Draht zu ihren geflüchteten Landsleuten verliert. Im Dezember 2024 hat Kiew deshalb ein «Ministerium für Nationale Einheit» gegründet. Dieses soll einen verstärkten Kontakt zu den Ukrainerinnen und Ukrainern im Ausland aufbauen und für eine einstige Rückkehr werben. Geplant sind sogenannte «Unity Hubs» (Einheitszentren) in Berlin und später an anderen Orten. Das ukrainische Ministerium für Wirtschaft rechnet damit, dass mindestens 4,5 Millionen von den rund 7 Millionen Kriegsflüchtlingen zurückkehren müssten, um das Land dereinst wieder aufbauen zu können. Noch aber hat die ukrainische Regierung keine konkreten Konzepte vorgestellt, wie sich eine gross angelegte Rückkehr nach einem Kriegsende bewältigt liesse.

«Ich habe mit meiner Vergangenheit abgeschlossen.»

Je länger der Krieg andauert, desto schwieriger wird es, die Menschen zur Heimkehr zu bewegen. Ihor Puzyrov sagt: «Ich habe mit meiner Vergangenheit abgeschlossen.» Die Zeit in der Ukraine fühle sich wie ein vergangenes Leben an. «Jetzt gebe ich mein Bestes, um mich in der Schweiz zu integrieren.» Auch Hanna Zaporozhets möchte nicht mehr weg – vor allem wegen ihrer Tochter. «Ich wünsche mir, dass sie in Sicherheit aufwächst.» Und nicht in einem Land, dessen Boden noch über Jahrzehnte voller Minen und Blindgänger verseucht bleibe. 

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