Auf einen Blick
- Mittlerweile müssen Ukrainer im Schnitt 80 Tage warten, bis sie den Status S erhalten
- Die Abklärungen zur Erteilung des Schutzstatus werden immer komplexer
- Das Staatssekretariat für Migration beschäftigt 45 Vollzeitstellen – allein um die offenen S-Gesuche abzuarbeiten
Es begann in der Dunkelheit – der russische Angriff vor bald drei Jahren. «Um vier Uhr morgens habe ich den ersten Knall gehört», sagt Yuliia Synenko (46), eine Ukrainerin aus Mariupol. Was folgte, waren Tage der Zerstörung. Drei Monate lang bombardierte Russland Mariupol, bis 90 Prozent der Gebäude in Trümmern lagen und die russische Armee im Mai 2022 die vollständige Kontrolle über die südukrainische Hafenstadt innehatte.
Zwei Jahre lang, so erzählt es Synenko, habe sie mit ihrer Tochter Ameliia (17) in der zerstörten Stadt überlebt. Schliesslich seien sie geflüchtet – bis in die Schweiz, wo sie im Mai 2024 ein Gesuch für den Schutzstatus S stellten. Doch hier begann eine andere Art von Kampf: ein bürokratischer. Sechs Monate wartet Synenko nun schon auf den Entscheid der Migrationsbehörden. Den Staat kostet das Geld, denn ohne positiven Entscheid darf die Ukrainerin nicht arbeiten. Sie ist notgedrungen von Sozialhilfe abhängig und muss in einer Asylunterkunft in Horn TG leben.
Beim Bund stapeln sich die Gesuche
Dabei ist Synenkos Geschichte kein Einzelfall – sie steht exemplarisch für die wachsenden Herausforderungen im Schweizer Asylsystem. Der Schutzstatus S wurde einst eingeführt, um das System zu entlasten und den Geflüchteten schnell zu helfen. Doch mittlerweile sind die S-Verfahren ins Stocken geraten. Zu Beginn der russischen Invasion wurden die Anträge noch innert zwei Wochen bearbeitet. Jetzt dauert es im Schnitt 80 Tage, wie das Staatssekretariat für Migration (SEM) auf Anfrage mitteilt.
Bei den Behörden haben sich die Gesuche gestapelt, und der Bund sah sich im Sommer gezwungen, sein Personal aufzustocken. Aktuell beschäftigt das SEM 45 Vollzeitstellen – allein um die vielen S-Gesuche abzuarbeiten. Der Pendenzenberg liess sich dank dem Teamausbau etwas verringern, doch weiterhin seien «rund 4800 Fälle» unerledigt, heisst es vom SEM.
Die langwierigen Verfahren belasten Geflüchtete. Synenko sagt: «Ich habe Angst, dass mir die Schweiz nicht glaubt, dass sie mich wegweist.» Anfangs mussten Gesuchsteller lediglich nachweisen, dass sie bei Kriegsausbruch einen festen Wohnsitz in der Ukraine hatten. Stellt jemand heute einen Antrag, will das SEM auch wissen, wo sich die Person seit Beginn der Invasion aufgehalten hat. Wer bereits in einem anderen Land Schutz erhalten hat, wird in der Schweiz abgewiesen.
Die Anforderungen an die Gesuchsteller werden immer komplexer – und damit auch die Abklärungen der Behörden. Im Fall von Synenko verlangte das SEM Bankauszüge, um zu überprüfen, ob ihr Lebensmittelpunkt wirklich während den zwei Jahren in der Ukraine lag. Synenko gab an, sie habe am 28. Februar 2022 zum letzten Mal Geld in Mariupol abgehoben. Der entsprechende Kontoauszug liegt Blick vor. Dem SEM genügte diese Antwort nicht, die Beamten forderten weitere Auszüge – doch Synenko sagt, es gäbe keine.
Was das SEM herausfordert
«Offensichtlich verstehen die Schweizer Behörden nicht, wie das Leben in Mariupol ist», sagt Synenko. Als der Krieg begann, habe sie alle Ersparnisse abgehoben. Die Bancomaten hätten noch eine Zeit lang funktioniert, doch die verbliebenen Geschäfte wollten nur noch Bargeld akzeptieren. Dann eroberte Russland die Stadt und begann, ein russisches Bankensystem aufzubauen. «Ich habe mich geweigert, den russischen Pass anzunehmen», sagt die Ukrainerin. Und ohne Pass sei sie in der eigenen Heimat wie eine Verstossene behandelt worden – ohne Zugang zu öffentlichen Dienstleistungen.
Dass in Mariupol zeitweise nur noch mit Bargeld gehandelt wurde, ist bekannt. Ebenso dass Russland sein eigenes Bankennetz etabliert hat. Doch vieles von dem, was Synenko erzählt, lässt sich nicht überprüfen – und genau darin liegt die Herausforderung für das SEM.
So lässt sich unmöglich verifizieren, wie Synenko in Mariupol überlebt haben soll. Die Ukrainerin sagt, ihr Ehemann habe etwas Bargeld verdient. Die russischen Besatzer hätten ihn gezwungen, für die Verwaltung zu arbeiten. Dabei habe er schreckliche Dinge miterlebt, darunter Folter und Vergewaltigung. Ihr Mann habe das nicht ausgehalten und Ende 2023 Suizid begangen. «Ab da hatten wir kaum noch etwas zum Überleben», erzählt Synenko. Deshalb habe sie sich entschieden, mit der Tochter zu fliehen.
Doch auch die Umstände ihrer Flucht sind undokumentiert. Synenko gibt an, mit einem Schlepper über Russland und mehrere EU-Länder in die Schweiz gelangt zu sein. Der Schlepper habe sie in einen Bus gesetzt und an den Grenzen alles geregelt. «Er wusste genau, wann, wo und bei welchem Zöllner wir sein mussten.» Sie seien gereist, ohne Spuren zu hinterlassen. Das SEM will jedoch wissen, in welchen Staaten sich die Ukrainerin aufgehalten hat – und verlangt auch hierfür Beweise.
Ist das S-Verfahren noch sinnvoll?
Kann eine Person keine Beweismittel vorlegen, gilt im Asylbereich: Schutz wird gewährt, wenn der Schutzbedarf überwiegend glaubhaft erscheint. Synenko muss also darauf hoffen, dass die Behörden ihre Geschichte für plausibel halten. Die Glaubhaftmachung ist ein Prinzip, das vor allem bei ordentlichen Asylverfahren immer wieder angewandt wird – nun aber auch vermehrt bei ausserordentlichen S-Verfahren.
Daher stellt sich die Frage: Ist das S-Verfahren noch sinnvoll, wenn es immer aufwendiger wird? Das SEM meint Ja, denn eine Integration des S-Verfahrens ins nationale Asylverfahren sei mit einem «massiven personellen Zusatzbedarf» verbunden.
Fest steht jedoch: Der ursprüngliche Nutzen des Schutzstatus S – die Entlastung des Asylsystems durch schnellere Verfahren – hat deutlich nachgelassen. Ob der Status S einen erneuten Flüchtlingsansturm aus der Ukraine auffangen kann, bleibt daher fraglich. Und für Betroffene wie Yuliia Synenko und ihre Tochter bedeutet dies: warten – nicht nur auf eine Antwort des SEM, sondern warten auf eine Perspektive.