Im August sagte der St. Galler Infektiologe Pietro Vernazza (65): «Das Virus kann sich erfolgreich verändern, sodass unsere Antikörper unwirksam werden.» Die Impfung nannte er einen «Glückstreffer», der «derart schnell da war». Doch trotz Impfung werde es auch in Zukunft immer Impfdurchbrüche geben. Der Körper habe aber eine zelluläre Immunantwort parat – «die Infektion verlaufe dadurch milder».
Angesichts Omikron schon fast prophetische Worte? Inzwischen ist der oftmals polarisierende Vernazza als Chefarzt der Klinik für Infektiologie und Spitalhygiene am Kantonsspital St. Gallen in den Ruhestand abgetreten. Auf der Plattform Infekt.ch meldet sich der renommierte Altmediziner zum aktuellen Infektionsgeschehen. Seine Hauptsorge? Die Wirtschaft. Entsprechend der Titel seines Beitrags: «Legen wir oder Omikron die Wirtschaft lahm?»
«In den nächsten vier Wochen werden wir überflutet mit Infektionen durch Omikron», mahnt Vernazza. Er rechnet mit vielen Infizierten – «es könnte ein Drittel der Bevölkerung treffen». Doch «kein Grund zur Panik», beruhigt der St. Galler. «Die vielen Infizierten werden meist mild erkranken.» Mehr Sorge bereite ihm die Arbeitswelt.
Automatisch verhängte Quarantäne
Insbesondere Genesene und Geimpfte müssten sich bei der Omikron-Variante kaum vor schwerem Verlauf fürchten, schreibt Vernazza. Das seien rund vier Fünftel der Schweizer Bevölkerung. Und die meisten Risikopersonen seien geimpft.
Die Hauptgefahr durch Omikron sieht Vernazza woanders. Der Emeritierte liefert «eine Prognose zu einem Problem, das mir am meisten Sorgen bereitet. Unsere Wirtschaft könnte mehr unter der Omikron-Welle leiden als unsere Spitäler.»
Sein Hauptargument? Die bei einem Positivtest automatisch verhängte 10-tägige Quarantäne. Falls sich grosse Bevölkerungskreise anstecken, könnten damit ganze Wirtschaftskreise lahmgelegt werden: «Wenn innert kurzer Zeit ganze Belegschaften für 10 Tage ausfallen, dann haben wir ein echtes Problem. Ein Problem, das wir selbst verursacht haben, nicht das Virus.»
Drei Tage Isolation genügend?
Vernazza hat das Bundesamt für Gesundheit (BAG) bereits im Mai 2020 darauf hingewiesen, dass eine Person mit Symptomen gewöhnlich keine Ansteckungsgefahr mehr bedeute. Die Virenlast stelle bloss noch ein minimales Restrisiko dar. Die Ansteckungsgefahr sei am höchsten, bevor sich Symptome bemerkbar machen. Symptome hätten auch nichts direkt mit dem Virus zu tun, sondern seien die Abwehrreaktion des Körpers.
Vernazza schlug eine Isolation von zwei Tagen nach Abklingen der Symtome vor. Das BAG aber richtete sich nach der 10-tägigen Isolation im angrenzenden Ausland. «Wir haben es versucht, aber erfolglos», erinnert sich Vernazza. «Tausende von Menschen blieben 10 Tage zu Hause, auch wenn sie sich am dritten Tag wieder wohl fühlten.» Dabei würden seines Erachtens drei Tage Isolation nach Abklingen der Symptome vollauf genügen, um eine Ansteckungsgefahr praktisch auszuschliessen.
Schadenfall Wirtschaft
Die Omikron-Welle bringe jetzt eine ganz neue Dimension: «Wir müssen wir mit sehr hohen Omikron-Erkrankungszahlen innert weniger Wochen rechnen», so Vernazza. «Geimpfte und Genesene werden mit grösster Wahrscheinlichkeit eine sehr kurze und milde Erkrankung haben», ist sich Vernazza sicher.
Seine grösste Sorge gilt nun daher der Wirtschaft: «Wenn nun das BAG an der 10-tägigen Isolationspflicht für Geimpfte und Genesene festhält, selbst dann, wenn die Symptome nach einem Tag abklingen, was nicht ungewöhnlich ist, dann könnte unsere Wirtschaft mehr unter der Omikron-Welle leiden als unsere Spitäler.» (kes)