Der 15. November ist ein glanzvolles Datum in der jüngeren Geschichte der Eidgenossenschaft. An jenem Mittwoch wehten in der Bundesstadt die Flaggen mit Schweizerkreuz und Trikolore. Es war der erste offizielle Staatsbesuch des französischen Präsidenten Emmanuel Macron (46) in der Schweiz. Die sieben Bundesräte warfen sich in ihre beste Garderobe. Im Bernerhof wurde dem Gästepaar aus dem Élysée-Palast Rindsfiletmedaillon mit Kräuterbutter und Rösti aufgetischt. Dazu redete Bundespräsident Alain Berset (51) über Voltaire und Rousseau und über das hervorragende Verhältnis zwischen den beiden Ländern. Später zeigte Bersets Gattin, die Künstlerin Muriel Zeender, Brigitte Macron das Zentrum Paul Klee.
Die Franzosen erwiderten die helvetische Charmeoffensive mit ebenso dröhnenden Nettigkeiten. Doch verfolgte der Mann aus Paris insgeheim noch eine ganz andere Agenda.
Macrons grosses Versprechen
Frankreich und die Schweiz buhlten zu jener Zeit um den Zuschlag für die Olympischen Winterspiele 2030. Die französische Entourage liess sich die Gelegenheit nicht nehmen, in Lausanne VD noch einmal kräftig zu lobbyieren, wo das Internationale Olympische Komitee (IOC) seinen Sitz hat. Fest steht, dass Macron mit IOC-Präsident Thomas Bach (69) zusammengekommen ist, schliesslich sind auch noch die Vorbereitungen für die Sommerspiele 2024 in Paris zu besprechen.
Das Staatsoberhaupt hatte eine klare Botschaft an Olympia-Boss Bach: L’État, c’est moi – der Staat bin ich. Macron garantierte: Wenn ihr uns die Winterspiele 2030 gebt, werden die Spiele stattfinden. Punkt. La Grande Nation deckt alle finanziellen Risiken.
Damit konnten die Schweizer nicht mithalten, die ein Jahr zuvor noch vom IOC bekniet worden waren, ein Projekt auszuarbeiten, da es keine Interessenten für eine Durchführung 2030 gab. Zwar machte in jenen Tagen auch Sportministerin Viola Amherd (61) ihre Aufwartung bei IOC-Präsident Bach, wie Blick-Recherchen zeigen.
Doch das neuartige föderalistische Konzept der Schweiz mit einem rein privat finanzierten Anlass brachte im Unterschied zu Macron ein grosses Risiko mit sich: Die Schweizer Bevölkerung könnte die Träume an der Urne beerdigen. Aufgrund des Zeitdrucks kamen Macrons Garantien da gerade recht.
Das französische Powerplay ging auf – zwei Wochen nach Macrons Staatsbesuch, am 29. November, fiel die «Future Host Commission» des IOC einen salomonischen Entscheid. Frankreich erhält die Spiele 2030. Die Schweizer werden auf die Warteschleife geschickt und können sich im Rahmen eines «Privileged Dialogue» – zu Deutsch: privilegierter Dialog – konkurrenzlos auf die Spiele 2038 vorbereiten.
Hinter den Kulissen wurde eifrig an der Kommunikation geschliffen, alles in Absprache mit VBS-Chefin Amherd, die die Zusage für 2038 als grossen Erfolg bejubeln sollte.
Doch wieder erfolgte ein Störmanöver der Franzosen: Eigentlich war vereinbart, dass man zeitgleich um 18 Uhr die Öffentlichkeit informiert. Das französische Komitee aber preschte um 16.30 Uhr vor und teilte mit, dass man die Ausmarchung für sich entschieden habe. Mit dem anderthalbstündigen Bruch der Sperrfrist errang die Konkurrenz die Deutungshoheit und konnte damit der Welt eine Siegesmeldung verkünden: Wir haben gewonnen, die anderen verloren.
Es liegt an der Schweiz
Plötzlich stand die Schweiz als Verliererin da. Das alte Trauma von 1999, als man die Spiele von Sion an Turin verlor, lebte wieder auf. Alt Bundesrat Dölf Ogi (81) sprach von einem «Schlag ins Gesicht». Und bei Swiss-Ski-Präsident Urs Lehmann begann das Telefon im Akkord zu klingeln. «Ich erklärte überall dasselbe: Dieser Entscheid ist keine Niederlage, sondern es wurde ein generationsübergreifendes Projekt daraus, ein Ziel, auf das wir miteinander hinarbeiten können, mit der Generation von morgen.» Man habe vom IOC schon heute mehr Zusicherung als Salt Lake City 2034. «Aber es ist eine Dynamik entstanden, die sich nicht mehr aufhalten liess.»
Lehmann versuchte vergeblich, Gegensteuer zu geben. «Es ist ein guter Tag für den Schweizer Sport», sagte er kurz darauf zu Blick, der titelte: «Jetzt ist die Schweiz plötzlich Favorit für Olympia 2038». Doch befanden sich Lehmann und Co. bereits in der Defensive. Das war besonders bitter, weil die Schweizer Olympia-Lobby im Vorfeld mit grossem Elan für das Projekt gekämpft hatte, anfangs noch gegen die Skepsis bei Swiss Olympic – die Befürworter seien zunächst als «Guerilla-Truppe» belächelt worden, wie Lehmann es ausdrückt. Hinter den Kulissen machten die Unerschrockenen weiter.
Jetzt steht die Schweizer Olympia-Allianz breiter da denn je – Swiss-Olympic-Präsident Jürg Stahl (55) ist heute einer der wichtigsten Fürsprecher der Sache, und der zu Beginn noch befürchtete Widerstand der Sommerdisziplinen ist weg. Der Luzerner FDP-Ständerat Damian Müller (39) präsidiert den Pferdesportverband Swiss Equestrian. Anfänglich kursierte die Angst, dass mit einer Winterolympiade die Unterstützungsgelder wegfallen und damit die Chancen auf die Durchführung der European Championships (EC), eine Art Multi-Europameisterschaft von olympischen Sommersportarten, sinken würden. Die Vertreter der Sommersportarten weibeln für eine Austragung 2030 in der Schweiz – Olympia im selben Jahr hätten diese Pläne wohl beerdigt.
Müller verströmt heute mit Blick auf 2038 Enthusiasmus und schwärmt wie Swiss-Olympic-Präsident Stahl von der «Pionierleistung», die im Land dringend nötig sei. «Das fehlt uns heute», findet Müller, weshalb es ein so wichtiges Signal sei, dass «sich die jetzigen Aktiven auch für die folgenden Generationen einsetzen». Müllers Bekenntnis ist nicht zu unterschätzen – ohne Einigkeit zwischen Winter- und Sommersportarten wäre das Ansinnen kaum realisierbar.
Wie sicher aber ist die Zusage des IOC für 2038? Matthias Remund (60), Direktor des Bundesamts für Sport, ist einer der Architekten der Kandidatur. Er gibt sich gegenüber Blick zuversichtlich. Er sei «etwas erstaunt» über die Skepsis, die jetzt herrsche.
Swiss-Ski-Präsident Urs Lehmann nennt es eine «vinkulierte Zusage». Mit anderen Worten: Es liegt an der Schweiz – wenn sie will, erhält sie den Zuschlag. Aber will sie? Das IOC hat gleichzeitig mit seinem Bekenntnis für 2038 an der Schweizer Kandidatur all das kritisiert, was die hiesigen Olympia-Turbos als Schritt in die Zukunft gefeiert hatten: die dezentrale Durchführung, das Fehlen von olympischen Dörfern und die fehlenden politischen Garantien. Der Weltverband fordert also all das ein, was Swiss Olympic umschiffen wollte – im Wissen, dass grosse Investitionen in neue Infrastrukturen oder finanzielle Garantien in der Vergangenheit bei Olympia-Abstimmungen in der Bevölkerung durchgefallen sind.
Heimische Lobbyisten arbeiten auf Hochtouren
Der Schweizer Olympia-Allianz bleiben rund vier Jahre Zeit, um gegenüber Lausanne Nägel mit Köpfen zu machen. Bis spätestens 2027 soll die überarbeitete Kandidatur stehen. Am liebsten hätten die Funktionäre des IOC einen direkten Pfad zur Vergabe übernächstes Jahr – das hiesse Vertragsunterzeichnung am IOC-Kongress im Mai 2025 in Athen, spätestens 2026 in Mailand (I).
Das Departement von Bundesrätin Amherd teilt Blick mit, dass die Chefin den Entscheid des IOC zum «Privileged Dialogue» begrüsse. Damit ermögliche das IOC «eine langfristige Perspektive bezüglich Sportförderung, Nachhaltigkeit und Vermächtnis». Es gebe «regelmässig Austausch» mit Lausanne.
Nun arbeiten die heimischen Lobbyisten daran, dass der Gesamtbundesrat kommenden Frühling an die Adresse von Thomas Bach ein gemeinsames Statement abgibt. Im Hintergrund laufen bereits Bemühungen, dass Viola Amherd den IOC-Chef erneut treffen soll. Sollte sie die Olympischen Spiele in die Schweiz holen, könnte sie 2025 mit Glanz und Gloria zurücktreten – und ihre Pannenserie im VBS wäre vergessen.
Im Januar treffen sich die IOC-Kader das nächste Mal. Und die Olympia-Befürworter haben es in der Hand, die eigene Bevölkerung mit ihrer Begeisterung anzustecken.
Immerhin: Mit Emmanuel Macron haben sie dabei einen Gegner weniger.