Zusammenfassung der Verhandlung
Er hat sich laut Anklageschrift unter anderem als Melanie ausgegeben und über Tiktok Minderjährige kontaktierte, die er dann belästigte: Jimmy X* (24) aus dem Kanton Baselland musste sich am Montag vor dem Strafgericht Muttenz wegen einer Vielzahl von Vorwürfen verantworten. Der schwerwiegendste: Sexuelle Handlungen mit Kindern.
Während der Verhandlung stellte sich heraus, dass eine geistige Beeinträchtigung vorliegt. Dadurch ist Jimmy X. mittelgradig vermindert schuldfähig.
Der Staatsanwalt forderte für die elf Fälle eine unbedingte Freiheitsstrafe von sieben Monaten und eine Busse von 500 Franken sowie eine ambulante Therapie.
Der Verteidiger hingegen forderte einen Freispruch oder eine bedingte Geldstrafe von 150 Tagessätzen zu 15 Franken mit einer Probezeit von drei Jahre. Auch er sprach sich für eine ambulante Therapie aus.
Der Richter entschied sich für den Mittelweg: Er sprach Jimmy X. für die Mehrheit der Vorwürfe für schuldig – unter anderem wegen sexuellen Handlungen mit Kindern – und verurteilt ihn zu einer Freiheitsstrafe von vier Monaten sowie zu einer Busse von 300 Franken. Die Gefängnisstrafe wird zugunsten einer ambulanten Therapie aufgeschoben. Ausserdem wird Jimmy X. ein Tätigkeitsverbot mit Minderjährigen auferlegt.
Das Urteil ist noch nicht rechtskräftig.
*Name geändert
Verhandlung fertig
Die Verhandlung ist nach rund einer Stunde fertig.
Gezielte Suche nach Minderjährigen
Nun geht der Richter auf die einzelnen Fälle ein. Er erwähnt eingangs noch: «Er hat gezielt Kontakt zu Minderjährigen gesucht.»
Weiter meint der Richter: «Jimmy X. hat selbst angegeben, dass er sich als weibliche Person ausgebe, um schneller in Kontakt mit anderen zu kommen.» Ausserdem sei ihm bewusst: «Wenn er sein richtiges Alter angeben würde, würde der Kontakt mit den meisten Mädchen nicht zustande kommen.»
In den meisten Fälle sei der Sachverhalt erstellt, so der Richter weiter. Vieles stimme in den Fällen überein – so etwa, dass Jimmy X. sich als Melanie ausgegeben habe. Ausserdem habe er sexuell, gewalttätige Forderungen gestellt.
Der Richter macht nur in einzelnen Fällen kleinere Abstriche bezüglich der Vorwürfe.
Gefängnisstrafe von vier Monaten
Das Gericht erklärt Jimmy X. für die Mehrheit der Vorwürfe für schuldig und verurteilt ihn zu einer Freiheiststrafe von vier Monaten sowie einer Busse von 300 Franken. Die Gefängnisstrafe wird zu Gunsten einer ambulanten Massnahme aufgeschoben. Ausserdem wird ihm ein Berufsverbot mit Minderjährigen auferlegt.
Bei seinem Urteil habe der Richter bereits beachtet, dass Jimmy X. mittelgradig vermindert schuldfähig ist.
Das Urteil
Mit etwas Verspätung geht es um 14.36 Uhr mit der Verhandlung weiter.
Gericht will nun entscheiden
Nun folgt eine Pause bis 14.30 Uhr. Bis dahin will sich das Gericht zum Urteil beraten.
Verantwortung der Eltern
Der Verteidiger findet, dass es zwar eine objektive Schwere der Taten gibt – vor allem da sie gegen Kinder gerichtet waren. Doch: «Die Taten fanden im Internet statt, somit war der Impact auf die Opfer nicht gross.»
Weiter geht der Verteidiger auf die Pflicht der Eltern ein: Diese hätten genauer hinschauen müssen, was ihre Kinder so im Internet tun.
Der Staatsanwalt geht in seiner Replik darauf ein: Er teile die Meinung des Verteidigers, dass Eltern die Aktivitäten der Kinder im Auge behalten sollten. Trotzdem belaste dies nicht die Mädchen.
Anwalt fordert Freispruch
Nun ergreift der Verteidiger von Jimmy X. das Wort. Er fordert einen Freispruch oder eine bedingte Geldstrafe von 150 Tagessätzen zu 15 Franken. Die Probezeit soll drei Jahre betragen. Der Grund: Verminderte Schuldfähigkeit. Weiter fordert der Verteidiger eine ambulante Therapie von drei Jahren sowie das Self-Monitoring zur Kontrolle. Diese soll ebenfalls drei Jahren angewendet werden.
Sein Mandant sei stark geistig behindert. Er habe die Taten eingestanden, doch er könne die Tragweite dieser Taten nicht einschätzen. Er habe sie als Witz oder Spass betrachtet.
Durch seine geistige Behinderung sei auch seine Entwicklung stark verzögert – so auch die sexuelle Entwicklung. Sein Mandant sei zwar 24 Jahre alt, doch er sei auf dem Stand eines 14-Jährigen.
«Es liegt eine Deliktserie vor»
Gemäss dem Staatsanwalt sind heute elf Fälle zu beurteilen. «Ich gehe davon aus, dass diese im Wesentlichen erstellt sind.» Jimmy X. habe sich zu den Fällen geäussert, an manche konnte er sich jedoch nicht erinnern.
Der Staatsanwalt spricht sich für Schuldsprüche gemäss Anklage aus. Nun kommt er zur Strafzumessung und zur Massnahme: Jimmy X. sei gemäss Art. 187 StgB wegen sexuellen Handlungen mit Kindern zu verurteilen. Hier ist eine Geldstrafe oder Freiheitstrafe bis zu fünf Jahren vorgesehen.
Strafschärfend sei die Delikte-Anzahl innerhalb kürzester Zeit. «Es liegt eine Delikteserie vor.»
Strafmildernd hingegen seien diagnostizierte mittelgradig reduzierte Steuerfähigkeit und die mittelgradige Urteilsfähigkeit.
Der Staatsanwalt fordert eine unbedingte Freiheitstrafe von sieben Monaten und eine Busse von 500 Franken sowie eine ambulante Therapie.
Fortführung nach Pause
Es geht nun weiter. Der Staatsanwalt darf mit seinem Plädoyer beginnen.
Kinderfänger haben auf Tiktok leichtes Spiel. Zwar ist die Plattform mit elterlichem Einverständnis ab 13 Jahren erlaubt. Doch die Realität sieht anders aus: Die App spricht die ganz junge Zielgruppe an. So sind hier nicht nur jüngere Teenager, sondern auch Kinder aktiv. Tiktok versucht zwar, Inhalte und Profile von Minderjährigen zeitnah zu löschen – vergeblich. Dadurch wird die Plattform zum idealen Jagdgebiet für Pädophile.
Auch Sienna M.* (heute 15) aus dem Kanton St. Gallen ist Ende 2019 als Elfjährige in die Falle eines mutmasslichen Tiktok-Pädos getappt. Blick hat mit dem Einverständnis ihrer Mutter mit ihr gesprochen. Sie sagt: «Er gab sich als Melanie aus und wollte uns ein Kleid zeigen. Stattdessen präsentierte er uns seine Genitalien.»
Melanie sucht Freundinnen
Am 30. Dezember übernachtete eine damals dreizehnjährige Freundin bei der elfjährigen Sienna M. Zusammen verbrachten die Mädchen Zeit auf Tiktok. Dann wurden sie von einem angeblich gleichaltrigen Mädchen namens Melanie kontaktiert. Sie wollte mit den beiden befreundet sein, weil sie so «cool und hübsch» seien. «Sie wollte unsere IBF sein – also Internet-Best-Friend (Bester Freund im Internet). Damals ein verbreiteter Tiktok-Trend.»
Die Mädchen und Melanie tauschten ihre Nummern und der Kontakt wurde auf Whatsapp und andere Kanäle verlegt. «Sie wollte dann unsere Meinung zu einem Kleid hören und rief uns mit einem Videotelefon an. Wir sahen zuerst kein Gesicht, nur das schwarz-weisse Kleid», erinnert sich Sienna M.
Tanz vor der Kamera
Dann stellte die Person die Kamera auf, stand auf und trat etwas zurück und begann zu tanzen. «Es war so seltsam. Erst da realisierten wir, dass Melanie kein Mädchen ist», sagt Sienna M. «Doch es war zu spät: Er hob plötzlich das Kleid hoch und zeigte uns seinen Penis.»
Vor Schreck legten die Mädchen auf und informierten M.s Mutter: «Sie konnte es zuerst nicht glauben und rief selbst zurück.» Wieder war der Beschuldigte dran.
Anzeige erstattet
Sienna M. und ihre Mutter meldeten den Vorfall der Polizei. Die Mutter von Sienna sagt gegenüber Blick: «Ich habe dann erfahren, dass er als Melanie die Mädchen sogar am Bahnhof unseres Wohnortes treffen wollte. Ich war einfach nur froh, dass nichts Schlimmeres passiert ist.»
Lange ging die Familie davon aus, dass es sich hierbei um einen Einzelfall handelt. Bis ein Schreiben der Staatsanwaltschaft ins Haus flatterte, das sie über den Stand des Verfahrens informierte. «Als ich all die Namen und jeweils das Alter gesehen habe, hatte ich Gänsehaut», sagt Sienna M. Ähnlich erging es ihrer Mutter: «Mir ist übel geworden.»
Mehrere Betroffene
Am Montag steht der beschuldigte Jimmy X.* (heute 24) aus dem Kanton Baselland vor Gericht. Über fünf Jahre hinweg soll er sich an über zehn Mädchen herangemacht und sie belästigt haben – so die Anklageschrift. Sein Jagdgebiet: Tiktok.
Gemäss Staatsanwaltschaft soll er vor den Minderjährigen während Video-Calls masturbiert haben, ihnen Bilder seiner Genitalien oder Pornos – unter anderem mit gewalttätigem Inhalt – geschickt haben. Auch habe er von einer Zehnjährigen gefordert, sich aufreizend zu kleiden. Sie sollte sich dabei filmen und ihm das Video per Whatsapp schicken.
Unter Druck gesetzt
In mindestens zwei Fällen soll er sich gar als Kollege der imaginären Melanie ausgegeben haben. Laut Anklageschrift forderte er von einer 16-Jährigen, gewalttätige und für ihn sexuell motivierte Handlungen auszuführen. Sollte sie dem nicht nachkommen, würde er seine vermeintliche Freundin Melanie umbringen. Als sie seinem Wunsch nicht nachkam, behauptete er, Melanie getötet zu haben. Das würde er auch mit ihr tun, falls sie sich weiterhin weigern sollte, seinem Wunsch nachzukommen. Die Teenagerin hatte daraufhin solche Angst, dass sie sich nur noch in Begleitung ihrer Geschwister aus dem Haus traute. Auch die fünfzehnjährige Freundin der Betroffenen soll er mit einer ähnlich perfiden Taktik unter Druck gesetzt haben.
Die Vorwürfe der Staatsanwaltschaft lauten: Mehrfache sexuelle Handlungen mit Kindern, Widerhandlung gegen das Verbot der harten Pornografie und des mehrfachen Überlassens von Pornografie an unter 16-Jährige sowie die Anstiftung zur Herstellung von harter Pornografie, mehrfache teilweise versuchte Nötigung, Beschimpfung und mehrfache sexueller Belästigung. Welche Strafe ihn erwarten könnte, ist noch offen – sämtliche Anträge werden anlässlich der Hauptverhandlung gestellt.
Stärkere Kontrolle
Blick hat den Anwalt des Tatverdächtigen mit den Vorwürfen konfrontiert. Doch er nimmt vor der Verhandlung keine Stellung. Für seinen Mandanten gilt weiterhin die Unschuldsvermutung. Blick berichtet am Montag von der Verhandlung.
In Bezug auf den Vorfall mit Sienna M. empfiehlt ihre Mutter anderen Eltern, besser auf die Internet-Aktivitäten ihrer Kinder zu achten: «Ich bereue es, dass ich meine Tochter nicht stärker kontrolliert habe, um sie vor so einem Menschen zu beschützen.» Zwar habe der Vorfall bei ihr keine Spuren hinterlassen, doch auch Sienna M. wünschte sich, dass ihre «Mutter mehr geschaut hätte».
* Namen geändert