Sienna M.* (heute 15) ist im Dezember 2019 davon ausgegangen, eine neue Freundin auf Tiktok gefunden zu haben. Doch Melanie habe sich rasch als Widerling entpuppt: Statt eines Kleides habe Jimmy X.* (heute 24) der Elfjährigen seine Genitalien präsentiert.
Laut Medienpädagogin und Familienberaterin Sharmila Egger vom Verein Zischtig.ch zeigt dieser Fall, dass in Bezug auf Pädophile ein Umdenken stattfinden sollte: «Wir alle haben so ein Bild von einem Pädophilen: Er ist etwa 50, dicklich, trägt eine Hornbrille und fährt einen weissen Van. Doch wir müssen dieses Bild vergessen», sagt sie. «Da draussen sind sehr junge und technik-affine Pädophile unterwegs, die durch ihre Art rasch Kontakte zu potenziellen Opfern aufbauen können.» Die hohe Zahl der Betroffenen aus der Anklageschrift zeige, wie geschickt der junge Mann in seinem Tun sei.
Chatfunktion als Gefahr
Dass der Kontakt in den meisten Fällen über Tiktok zustande kam, überrascht Egger nicht: «Die App sollte ursprünglich Kinder ansprechen. Dementsprechend halten sich weiterhin viele Kinder dort auf. Und jede Plattform, die Kinder anspricht, spricht auch Pädophile an.»
Neben Tiktok seien das aktuelle Apps wie Roblox, Zepeto, Discord und Snapchat. «Alle Apps mit einer Chatfunktion stellen eine Gefahr dar», sagt Egger. Und: «Pädophile haben viele Maschen, um an die Kinder zu kommen.» Eine davon sei – wie im vorliegenden Fall – sich als gleichaltriger User auszugeben.
Dass Kinder und Teenies von Fremden auf solchen Plattformen kontaktiert werden, gehöre zum Alltag. Egger: «Viele wissen heutzutage bereits ab 8 Jahren Bescheid, dass es darunter auch ‹böse Menschen› gibt – wie etwa Pädophile – und dass sie keine privaten Informationen teilen sollten.»
Frühe Aufklärung
«Trotzdem fehlen den Minderjährigen oftmals die Fähigkeiten und die Erfahrung, um potenzielle Gefahren zu erkennen», so Egger.
Es gibt Hinweise, die einem Kind oder einem Teenager bei der Einschätzung helfen können: «Sobald ich merke, dass jemand zu schnell, zu viel von mir wissen will und dann vielleicht auch übermässig Verständnis zeigt oder mich dann gar unter Druck setzen will, sollten die Alarmglocken läuten.»
Gemeinsames Erkunden
Die Medienpädagogin hat Verständnis für Eltern, die ihren Sprösslingen in jungen Jahren Apps wie Tiktok verbieten. Doch während Jüngere das Verbot eher akzeptieren, lehnen sich ältere Kinder dagegen auf, so Egger. «Das Schlimmste, was dann passieren kann, ist, dass die App dann heimlich genutzt wird», erklärt sie. «Falls dann etwas passiert, haben die meisten Angst, ihre Eltern zu informieren.»
Deshalb empfiehlt sie Eltern, Apps gemeinsam mit ihren Kindern zu entdecken und diese gleichzeitig über potenzielle Gefahren aufzuklären. «Die Informationen sollten häppchenweise erfolgen und dem Alter und dem Entwicklungsstand des Kindes angepasst sein.» Hierbei wichtig: «Dem Kind die Angst nehmen und gleichzeitig den Weg ebnen, dass sich das Kind ihnen jederzeit anvertrauen kann.»
Auch sollten Eltern zusammen mit dem Kind das kritische Denken üben sowie das eigene Bauchgefühl stärken. «Dies dient als Alarmsystem: Sobald sich etwas nicht richtig anfühlt, sollte ich mit einer erwachsenen Vertrauensperson darüber sprechen.»
*Namen geändert
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