Der Fall von Cem* (26) füllt acht Bundesordner. Abhörprotokolle, Zeugenaussagen, Überwachungsfotos. Die Ermittler verfolgten seine Spuren von Schaffhausen bis Syrien – nun kommt er vor Gericht. Laut der Bundesanwaltschaft hat der Türke ein minderjähriges Mädchen dazu motiviert, sich dem Islamischen Staat (IS) anzuschliessen. Er soll eine «Medienagentur» für die Terrormiliz betrieben und Gelder für sie gesammelt haben. Am 29. Oktober 2019, kurz vor Sonnenaufgang, schlug die Polizei zu. In der bisher grössten Anti-Terror-Razzia in der Schweizer Geschichte durchsuchten rund hundert Beamte Wohnungen in Zürich, Bern und Schaffhausen. Sie nahmen elf Verdächtige fest, darunter Cem. Er blieb 140 Tage in Haft.
Justizdokumente legen jetzt erstmals offen, wie Cem vorging. Und wie tief er im Salafistensumpf steckte. Bis zum Tag seiner Verhaftung widmete der junge Schaffhauser sein Leben dem Dschihad. Beim Messengerdienst Whatsapp nannte er sich «Schwert Allahs», seine Freunde gaben ihm den Übernamen «Abu Radikal». In einer Telegram-Nachricht an einen Mitstreiter verriet er seinen Plan: Cem wollte nach Syrien und dort – mit einer AK-47 in der Hand – für den IS sterben.
Treffen in Winterthur Töss
In der Schweiz agierte er als eine der Leitfiguren einer Gruppe von jungen Islamisten. Die gläubigen Männer trafen sich seit 2018 im «Rümli», einem Proberaum für Musiker in Winterthur Töss. Was sie nicht wussten: Die Sicherheitsbehörden hatten den Raum verwanzt.
Im «Rümli» mit dabei war auch Vedad* (25), der den IS-Apparat von innen kennt. 2014 reiste er mit seiner damals 15-jährigen Schwester nach Syrien. Als sie zurückkehrten, wurden sie verhaftet und verurteilt. Vor Gericht schwärmte Vedad über seine Zeit im Kalifat: «Ich verspürte in Syrien eine Süsse, weil ich den Menschen half.»
Vor zwei Wochen klagte die Bundesanwaltschaft ihn erneut an. Nach seiner Rückkehr aus Syrien soll Vedad weiterhin IS-Propaganda betrieben und mehrere Personen radikalisiert haben. Unter anderem tat er das im «Rümli» in Winterthur, zusammen mit Cem.
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Für gefangene IS-Kämpfer Geld gesammelt
Teil der Gruppe war auch ein verurteilter IS-Anhänger aus Winterthur, der im Sommer 2020 nach Wien reiste und dort Kujtim F.** (†20) traf, der wenige Monate später bei einem Attentat in der österreichischen Hauptstadt vier Menschen erschoss und 23 verletzte.
Online stand Cem in Kontakt mit Gesinnungsgenossen aus anderen Ländern, sammelte Geld für gefangene IS-Kämpfer. Am häufigsten tauschte er sich mit einer minderjährigen Österreicherin aus, die er über Instagram kennengelernt hatte. Die beiden schickten innerhalb von nur zwölf Tagen mehr als 2500 Chatnachrichten hin und her. Erst offen, dann via Geheimchatmodus auf Telegram. Laut der Anklageschrift versuchte Cem, die Teenagerin zu überzeugen, ihn nach islamischem Recht zu heiraten und sich gemeinsam dem IS in Syrien anzuschliessen.
Beinahe wäre ihm das gelungen. Die Polizei konnte die Österreicherin kurz vor der geplanten Ausreise festnehmen. Sie hatte bereits einen Abschiedsbrief an ihre Familie geschrieben: «Macht euch bitte keine Sorgen und trauert nicht um mich, bitte … Sondern seid stolz, dass ich als Schuhadah (Märtyrerin; Anm. d. Red.) falle.» Derweil beschaffte sich Cem eine Anleitung des IS für die Herstellung eines Sprengstoffgürtels.
Propagandamaterial auf Deutsch übersetzt
Laut den Ermittlern betrieb der Schaffhauser zudem eine «Medienagentur» für den IS. Er übersetze Propagandamaterial der Terrormiliz auf Deutsch, versah es mit einem eigenen Logo und verbreitete es über Telegram, Instagram und YouTube. Videos von Gräueltaten.
In der Anklageschrift kommt die Bundesanwaltschaft zum Schluss, dass Cem dabei «systematisch» handelte. Er habe die Agentur «in der Art und Weise eines Berufes» betrieben. Und damit gegen das IS-Verbot verstossen.
Am 9. Mai steht der 26-Jährige nun vor dem Bundesstrafgericht in Bellinzona. Aus dem Salafistenmilieu hat er Drohungen erhalten. Er soll ausgepackt und ehemalige Weggefährten verraten haben.
Noch ist nicht klar, welche Strafen die Bundesanwaltschaft für ihn fordert. Die Sanktionen werden erst beim Prozess bekannt gegeben. Klar ist einzig: Die Richter werden auch entscheiden müssen, ob Cem in die Türkei abgeschoben wird. Das wäre die Höchststrafe für den Schaffhauser, der zwar hier aufgewachsen ist, aber keinen Schweizer Pass besitzt. Laut Insidern führe Cem mittlerweile ein unauffälliges Leben – zumindest gegen aussen.
* Name geändert
** Name bekannt