Schweizer besuchten den Wiener Terroristen in seiner Wohnung
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Spuren bis in die Schweiz:Verhaftete Winterthurer trafen sich mit Kujtim F.* († 20)

Wenige Monate vor dem Attentat
Schweizer besuchten den Wiener Terroristen in seiner Wohnung

SonntagsBlick-Recherchen zeigen: Die zwei verhafteten Winterthurer trafen Kujtim F. (†20) Mitte Juli in Wien – zusammen mit deutschen Islamisten. Jetzt übernimmt die Bundesanwaltschaft das Terrorverfahren.
Publiziert: 07.11.2020 um 17:07 Uhr
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Aktualisiert: 27.04.2021 um 11:45 Uhr
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Kujtim F. (†20) zog am Montag mordend durch Wien.
Foto: Polizei
Fabian Eberhard

Der islamistische Terror ist zurück in Europa. Oder war er nie verschwunden? Fest steht: Zum ersten Mal seit Jahren gelang es einem Anhänger des Islamischen Staats (IS), eine offenbar von langer Hand geplante Attacke mit vollautomatischen Waffen durchzuziehen. Die traurige Bilanz des Anschlags vom Montag in Wien: vier Tote, 23 Verletzte.

Kujtim F.* († 20), ein vorbestrafter Dschihadist, handelte am Abend des Anschlags alleine. Vieles deutet jedoch darauf hin, dass er in ein internationales Geflecht von Islamisten eingebunden war – ein Netzwerk von jungen Männern, das bis in die Schweiz reicht.

Winterthurer waren «Kollegen» des Attentäters

Keine 24 Stunden nach den ersten Schüssen in der Altstadt von Wien schlugen Fahnder der Spezialeinheit EG Diamant im Winterthurer Grüzefeld-Quartier zu. Sie verhafteten zwei Salafisten, 18- und 24-jährig, beide involviert in laufende Islamismusverfahren.

Haben sie von der Tat gewusst? Oder waren sie gar daran beteiligt? Konkrete Anhaltspunkte dafür gibt es bis jetzt nicht. Sicher hingegen ist: Die zwei haben den IS-Terroristen von Wien getroffen. Das erklärte Bundesrätin Karin Keller-Sutter bereits am Dienstag. Die beiden seien «Kollegen» des Attentäters gewesen.

Jetzt zeigen SonntagsBlick-Recherchen: Die verhafteten Winterthurer reisten nur wenige Monate vor dem Anschlag nach Wien. Zwischen dem 16. und 20. Juli trafen sie sich dort gemäss Informationen aus Sicherheitskreisen mit mehr als einem Dutzend Islamisten aus Deutschland und Österreich – darunter Kujtim F., der Attentäter vom Montag. Zu jener Zeit versuchte Kujtim F. sich Munition in der Slowakei zu beschaffen.

Zwei Deutsche, zwei Schweizer und Attentäter Kujtim

Das Treffen der Männer – fast alle mit Wurzeln in Ländern des Balkans – soll in einem Park in Wien stattgefunden haben. Der Kern der Gruppe, zwei Deutsche, die beiden Schweizer und der spätere Attentäter Kujtim F. gingen danach in dessen Wohnung. Was die fünf nicht wussten: Die österreichischen Sicherheitsbehörden observierten die Zusammenkunft. Sie hatten kurz vorher einen Tipp ihrer deutschen Kollegen erhalten.

Für die Winterthurer wurde mittlerweile Untersuchungshaft beantragt. In den kommenden Tagen soll das Terrorverfahren von der Bundesanwaltschaft übernommen werden. Sprecherin Linda von Burg bestätigt: «Die Bundesanwaltschaft wird kommende Woche mit der Staatsanwaltschaft des Kantons Zürich die Übergabe des Falles umsetzen.» Zunächst seien aber noch «Fragen des Timings» und der Koordination zu klären.

Die Ermittler des Bundes müssen jetzt prüfen, ob die beiden Verhafteten in die Anschlagspläne involviert waren. Noch ist gut möglich, dass die Winterthurer den Attentäter zwar getroffen, jedoch nichts von der bevorstehenden Tat gewusst haben.

Spuren führen zu militantem Wiener Prediger

Unbestritten ist, dass die beiden jungen Männer zum Kern der radikalen Islamisten-Szene gehören. Klar ist auch, dass gegen beide bereits vor dem Anschlag wegen Verstosses gegen das IS-Gesetz ermittelt wurde.
Doch wo laufen die Fäden des Dreiländer-Netzwerks zusammen?

Erste Spuren führen zu dem militanten Wiener Prediger Ebu Tejma, in dessen Umfeld sich der Attentäter radikalisiert haben könnte. Tejma rekrutierte über Jahre hinweg Dutzende Kämpfer für den IS in Syrien.2014 wurde er verhaftet, später zu 20 Jahren Haft verurteilt. Doch sein Netzwerk wirkte weiter.

Tejma unterhielt viele internationale Kontakte. Zu seinen engen Vertrauten gehörte der als «Emir von Winterthur» bekannt gewordene Sandro V.* (34). Der soll die Eulachstadt zu einem Hort der Extremisten gemacht haben und selbst nach Syrien gereist sein. Erst vor kurzem verurteilte ihn das Bundesstrafgericht in Bellinzona zu 50 Monaten Gefängnis. Über Tejma sagte Sandro V.:«Für mich ist er ein Scheich» – ein geistiger Führer also.

Attentäter hatte Unterstützung bei Vorbereitung

Sandro V. ging in der mittlerweile geschlossenen An’Nur-Moschee ein und aus, ebenso wie der ältere der verhafteten Winterthurer, ein Konvertit mit Schweizer Pass.

Mit jedem Tag wird klarer, dass das Netzwerk des Wiener Terroristen deutlich grösser war, als zu Beginn angenommen. Und dass er bei seinen Anschlagsvorbereitungen wohl auf Helfer zählen konnte.

In Österreich befinden sich unterdessen acht Personen in Untersuchungshaft. Die Männer zwischen 16 und 24 Jahren stehen im Verdacht, den Attentäter unterstützt zu haben. In allen Fällen besteht laut Staatsanwaltschaft Flucht-, Verdunkelungs- und Tatbegehungsgefahr.

Droht Europa neue Angriffswelle?

Dem SonntagsBlick liegt eine behördeninterne Namensliste der Verdächtigen vor. Unter ihnen befinden sich Dschihadisten, die – genau wie der Attentäter Kujtim F. – versucht haben, sich der Terrormiliz IS in Syrien anzuschliessen.

Eine Frage bleibt offen: Droht Europa eine neue Welle von Angriffen? Auch wenn der islamistische Terror mit dem Untergang des IS-Kalifats in den Hintergrund gerückt ist – er war nie weg. Die Ruhe war trügerisch.
Zwar wurden europäische Länder seit 2017 nicht von schweren Anschlägen wie in Brüssel, Paris oder Berlin erschüttert. Es gab aber zahlreiche kleinere, improvisierte Attacken, etwa mit Küchenmessern.

Der Terror von Wien ruft nun in Erinnerung, dass islamistische Gruppierungen wie der IS auch nach ihrem territorialen Zerfall zu koordinierten Angriffen in Europa mit Schusswaffen in der Lage sind. Nicht von ungefähr warnen Geheimdienste weiterhin vor organisierten Zellen, die komplexe Angriffe planen.

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