Neun Minuten dauert es, um mit der S-Bahn vom Bahnhof Ziegelbrücke SG zum Bahnhof Siebnen-Wangen SZ zu kommen. Laut Fahrplan. Rollstuhlfahrer René Kälin (45) aber braucht dafür ganze 47 Minuten. Der Schäniser zeigt dem Blick seinen typischen Pendleralltag.
«Wohin fährst du?», ruft der Busfahrer, während er beim Halt am Bahnhof Lachen SZ an Kälin vorbeiläuft, um die Rampe auszuklappen. Kälin stört es, dass der Busfahrer ihn duzt, die anderen aber siezt.
Kälin kann am Bahnhof Siebnen-Wangen nicht aussteigen, weil es dort keine Rampe gibt. Also ist er einen Halt später ausgestiegen, in Lachen. Dort hat er den Bus verpasst, weil dieser viel zu knapp getaktet ist, und musste warten. Jetzt kann er endlich nach Siebnen fahren.
Umwege und lange Wartezeiten gehören zu seinem Alltag. Der Firmengründer und IT-Spezialist ist berufsbedingt oft in der Schweiz unterwegs. Wegen seiner Behinderung kann er kein Auto fahren und ist auf den öffentlichen Verkehr angewiesen.
Viele Bahnhöfe kann er nutzen, wenn er sich mindestens eine Stunde vorher anmeldet, damit ihm Bahnpersonal hilft. Oft weiss Kälin aber nicht, wie lange Termine oder Sitzungen dauern. Schon die kleinste Fahrplanänderung wirft alles durcheinander. «An meinem 41. Geburtstag musste ich alleine mit dem Rollstuhl mitten in der Nacht 40 Minuten nach Hause fahren, weil der letzte Zug verspätet war und ein Ersatzzug nicht rollstuhlgängig war, entgegen der Fahrplanauskunft.»
500 Bahnhaltestellen noch nicht umgebaut
Per Ende 2023 müssen die meisten der schweizweit rund 1800 Bahnhöfe so gebaut sein, dass Menschen mit einer Beeinträchtigung sie selbständig nutzen können. 20 Jahre Zeit hatten die Betreiberinnen für die Anpassungen. Die SBB und andere haben aber rund 500 Bahnhaltestellen noch nicht umgebaut. Bei rund 190 weiteren konnten die Bahnen das zuständige Bundesamt überzeugen, dass der Umbau unverhältnismässig sei. Laut dem Dachverband der Behindertenorganisationen sind gar zwei Drittel der Tram- und Bushalte so gebaut, dass Betroffene sie entweder gar nicht, oder nur mit Hilfe nutzen können.
«Merci, bis zum nächsten Mal», sagt der Busfahrer am Bahnhof Siebnen-Wangen, während er die Rampe herunterlässt, alle stehen zur Seite, damit René Kälin den Bus verlassen kann. Hier soll die Reise mit dem Blick enden. Der Bahnhof ist ein wichtiger Knotenpunkt. Es halten viele Busse hier. Und es gibt direkte Verbindungen nach Zürich. Für jene, die Treppen steigen können. Kälin fährt zur Bahnunterführung – einer Treppe mit etwa 20 Stufen –, um zu illustrieren, was er zum Schluss noch sagen wollte: «Es gibt für mich keine Möglichkeit, auf das andere Gleis zu kommen. Bis auf Fliegen.»
90 statt 34 Minuten
Zufällig muss Kälin heute nach Zürich. Er lässt sich auch noch dorthin begleiten. Wieder muss Kälin auf den Bus ausweichen. «Zurück nach Siebnen-Wangen?», fragt der Busfahrer, der nun schon zum dritten Mal aussteigt, um Kälin zu helfen.
Einmal musste Kälin an einem Tag sechsmal mit dem gleichen Bus fahren, immer stieg der gleiche Busfahrer aus, um für ihn die Rampe aufzuklappen. «In solchen Situationen habe ich das Gefühl, mich rechtfertigen zu müssen. Man verliert ein Stück seiner Privatsphäre.»
Nach 41 Minuten Busfahrt kann Kälin in Pfäffikon SZ auf die S-Bahn nach Zürich umsteigen. Insgesamt eineinhalb Stunden braucht er von Siebnen-Wangen nach Zürich. Mit der S-Bahn wären es 34 Minuten gewesen.
Vorgaben bis «Mitte der 2030er-Jahre» erfüllt
Die SBB sagen, man versuche, am Bahnhof Siebnen-Wangen und weiteren Bahnhöfen verschiedene Bauvorhaben parallel durchzuführen. Das sei wichtig, um Einschränkungen durch Bauarbeiten klein zu halten. Bis «voraussichtlich Mitte der 2030er-Jahre» würden alle SBB-Bahnhöfe den Vorgaben entsprechen. Bis dahin gibt es Shuttle-Fahrdienste. Etwa zwischen Ziegelbrücke und Siebnen-Wangen. Das ist für Kälin aber nicht attraktiv: «Das Einsteigen, Rollstuhl befestigen, Angurten und Aussteigen geht 10 Minuten. Am Ende spare ich ein paar Minuten. Dafür muss ich mich zwei Stunden vorher anmelden.»
Die jetzige Situation empfindet er als erniedrigend: «Wir müssen nach 20 Jahren immer noch mit diskriminierenden Einschränkungen leben.» Expertinnen der SBB hätten in den letzten Jahren viel Arbeitszeit darauf verwendet, Lösungen zu suchen. «Für sie ist das Arbeitszeit. Wir Betroffene können die Behinderung nicht nach Feierabend ablegen. Für uns ist das Lebenszeit, die uns niemand zurückgibt.»