Bis Ende 2023 sollten die Bahnunternehmen sämtliche Eisenbahn-Haltestellen baulich an die Vorgaben des Behindertengleichstellungsgesetzes (BehiG) von 2004 anpassen. Schon letztes Jahr war absehbar, dass die Frist nicht eingehalten würde.
Mit dem am Donnerstag publizierten Standbericht des Bundesamts für Verkehr (BAV) ist klar, wie weit die Umsetzung ist: Ende 2022 waren 992 der total rund 1800 Schweizer Bahnhöfe dem Gesetz entsprechend umgerüstet. Bis Ende 2023 kommen gemäss BAV 106 weitere Bahnhöfe dazu.
Somit sind nur 60 Prozent der Bahnhöfe angepasst. Da die grossen Bahnhöfe prioritär angepasst wurden, können per Ende 2023 rund 80 Prozent aller Menschen mit Beeinträchtigungen autonom und spontan mit dem Zug reisen.
Bei 499 Bahnhöfen können die Anpassungen trotz mehrfacher Intervention des BAV erst nach Ablauf der gesetzlichen Frist umgesetzt werden. Die Verantwortung dafür liegt aus Sicht des Bundes klar bei den Bahnen.
So rechtfertigen sich SBB & Co.
Blick hat bei den Bahnhofbetreibern nachgefragt. Bei den SBB kann Ende 2023 an 463 Bahnhöfen stufenlos gereist werden. 271 Bahnhöfe werden nach 2023 baulich angepasst. 30 Bahnhöfe werden nicht umgebaut. «Dort wären bauliche Lösungen nur mit einem unverhältnismässig grossen finanziellen Aufwand realisierbar», heisst es vonseiten der SBB. Der Umbau der noch nicht konformen Bahnhöfe dauert voraussichtlich bis Mitte der 2030er Jahre.
Bei der BLS sind 85 von 115 Bahnhöfen und Haltestellen umgebaut. «Von den 30 ausstehenden Bahnhöfen werden sieben nicht oder nur teilweise umgebaut, weil eine vollständige Umsetzung des BehiG unverhältnismässig teuer wäre», heisst es.
Bei der RhB sind 104 Bahnhöfe BehiG-konform umgebaut. 18 Bahnhöfe werden später umgebaut. Bei 38 RhB-Bahnhöfen ist ein Umbau aufgrund Ausnahmeregelungen im Gesetz nicht vorgeschrieben.
Mehr zur Barrierefreiheit
Alle befragten Transportunternehmen unterstreichen die bereits getätigten grossen Investitionen und das Angebot an Überbrückungsmassnahmen an den noch nicht angepassten Bahnhöfen. Als Grund für die Verzögerungen nennen sie die Komplexität der Projekte, Baueinsprachen oder Abhängigkeiten zu anderen Bauprojekten. Das BAV spricht von «fehlenden Ressourcen bei Planung und Personal, fehlenden Zeitfenstern für die Bautätigkeit sowie beschränkten finanziellen Mitteln».
Behindertenorganisationen sind unzufrieden
Inclusion Handicap ist wenig begeistert über den Stand der Dinge. «Das Recht auf selbstbestimmte Mobilität wird nicht respektiert», hält der Schweizer Dachverband der Behindertenorganisationen gegenüber Blick fest.
Die Überbrückungsmassnahmen seien «besser als gar nichts», könnten aber die volle Barrierefreiheit nicht ersetzen. Auch das Kostenargument bei der Verzögerung lässt Inclusion Handicap nicht gelten: «Wären die Kosten über die 20 Jahre besser verteilt worden, würden sie sich zum Ende der Frist nicht plötzlich konzentrieren.» Dazu werden Massnahmen für die barrierefreie Gestaltung von Bahnhöfen seit 2019 vollumfänglich aus dem Bahninfrastrukturfonds und damit vom Bund finanziert.
Das BAV müsse seine Funktion als Aufsichtsbehörde in Zukunft viel konsequenter wahrnehmen als bisher, fordert der Verband.